Rheinische Post Krefeld Kempen
Move zeigt die Auflösung der Körper im Tanz
Mit einem übervollen Abend startete das 19. Festival des Modernen Tanzes in der Fabrik Heeder. Zwei großartige Live-Premieren und sechs Kurzfilme – das ist keine leichte Kost.
„Normal ist nicht normal“, sagt Henrietta Horn. Und deshalb macht die Choreografin, was sie in Nicht-Corona-Zeiten nie getan hätte: Sie redet zum Publikum. Es war ein besonderer Abend in der Fabrik Heeder, dieser Auftakt für das 19. Festival „Move!“, mit dem Krefeld bis zum 21. November den Modernen Tanz zelebriert. Diese Version musste „neu gedacht“werden, wie Krefelds Kulturbeauftragte Gabriele König in ihrer Eröffnungsansprache sagte. Es war ein bereichernder Abend, hoch ambitioniert und mit viel, viel Futter für alle Sinne.
Henrietta Horn spricht also – von den Ängsten, als eine volle Tanzsaison auf einmal leer war, von der großen Erleichterung, als Dorothee Monderkamp vom Kulturbüro anfragte, ob eine Corona-konforme Produktion für „Move“möglich sei. „Künstlerische Beschäftigung hilft gegen die existenzielle Angst“, so Horn. Und dann lässt sie teilhaben an den Gedanken und Experimenten, am Ausloten von Intimität und Distanz, die zur Premiere von„Contrapunctus I“wurden.
Titel und Musik liefert Johann Sebastian Bach. Aus seiner „Kunst der Fuge“stammt die Komposition, die der Organist Matthias Geuting live auf einer Truhenorgel spielt. Diese barocke Kompositionsanweisung, die konsonante und dissonante Tonverbindungen zu einem am Ende harmonischen Klangganzen kombiniert, greift die Tänzerin auf. Horn, die lange Jahre gemeinsam mit Pina Bausch das Folkwang
Tanzstudio geleitet hat, setzt das musikalische Prinzip in Bewegung um. Sie folgt den Tönen, dem Rhythmus. Schon bald ist nicht mehr erkennbar, ob die Musik sie lenkt oder ob sie die Musik beeinflusst. Jede Muskelanspannung übertragen Sensoren an ihrem Oberarm auf einen Computer, mit dem Reinhard Hubert den Tanz – damit auch die Musik – visualisiert. Wie ein Elektrogramm der Hirnströme oder Herzfrequenz fließt der Rhythmus auf eine Leinwand, über den Körper der Tänzerin. Ein Strömen, ein Überlagern, eine Auflösung von Grenzen, die gefangennimmt.
Auch Ilona Pászthy löst Grenzen auf. Mehr noch. In„absence#1“geht es – wie oft in ihren Arbeiten – um das Phänomen des Verschwindens, um die völlige Auflösung von Individuen durch Digitalisierung. „Bin ich hier?“und „Gibt es mich, wenn du mich nicht sehen kannst?“sind zentrale Fragen, zu denen sie keine eindeutige Antwort gibt. Der Körper von Tänzerin Marta Ladjanszki, im einen Moment noch von kraftvoller Präsenz, wird vereinnahmt von dem Körper eines Mannes, der nur virtuell als Projektion erscheint. Beide streifen ihre Kleidung ab wie abge
storbene Häute. Mit jeder Häutung, werden sie weniger greifbar, weniger als sie selbst erkennbar. Bald ist nicht mehr zu unterscheiden, wo die Gestalt der Frau aufhört, wo die des Mannes beginnt. Dann wieder zwingt Sie Ihn ins Miniaturformat. Ständig entsteht eine neue Perspektive, die immer den Beigeschmack eines Verlustes hat.
Es ist eine poetisch-philosophische Choreografie, die keinen leichten Stand hat. Denn zum Corona-Konzept, den Abend mit Solo-Tanzaufführungen zu gestalten, gehört die Zugabe von sechs Kurzfilmen. Vier werden zwischen den Liveauftritten auf der gegenüberliegenden Bühne gezeigt (so ist Zeit zum Lüften und Umbauen), zwei zum Abschluss. Auch da setzt Monderkamp auf Qualität. Besonders „Bailaora“hat es in sich. Der Spanier Rubin Stein zeigt darin eine Kriegsgebietsszene, in der eine komplett bandagierte Flamencotänzerin den in einer Kirche versteckten Kindern das Leben rettet. Ein Film, der lange wirkt, auch über den Abend hinaus. Ein beeindruckender Auftakt, allerdings mit zu viel Bild- und Bedeutungsschwere. Es hätte locker für zwei Veranstaltungen gereicht.