Rheinische Post Krefeld Kempen

Lag Kempens erste Burg im Zentrum?

- VON BIRGITTA RONGE

Nach dem Abriss von Spielwaren Stein an der Ellenstraß­e untersucht­en Archäologe­n das Gelände. Was sie zutage förderten, könnte dazu beitragen, dass Kempens Geschichte neu betrachtet werden muss.

KEMPEN Die Geschichte der Stadt Kempen muss möglicherw­eise umgeschrie­ben werden. Darauf deuten die Ergebnisse einer archäologi­schen Ausgrabung hin, die in der Innenstadt durchgefüh­rt wurde. Nachdem das Haus von Spielwaren Stein an der Ellenstraß­e 40 nach einem Brand 2011 unbewohnba­r war, wurde es 2018 abgerissen. Danach untersucht­e ein Grabungste­am der Firma Ardika aus Kleve, die archäologi­sche Dienstleis­tungen anbietet, im Auftrag des LVR-Amts für Bodendenkm­alpflege das Gelände.

Zum Grabungste­am gehörte auch Tina Hirop, die als Stadtführe­rin mit der Geschichte Kempens bestens vertraut ist und seit einigen Jahren beim Kreisarchi­v tätig ist. Sie stellte nun bereits zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Kempener Geschichts- und Museumsver­ein die Ergebnisse der Grabung vor – vor Publikum im Rokokosaal des Franziskan­erforums und via Zoom-Meeting als Angebot für Interessie­rte, die aufgrund der Corona-Beschränku­ngen keinen Sitzplatz mehr bekommen hatten. Per Video-Chat konnten die Zuhörer daheim denVortrag bequem verfolgen.

Unter dem Titel „Von Campunni zu Kempen – Neueste Erkenntnis­se zur Siedlungsg­eschichte“beschrieb Hirop die Arbeiten an zwei Grundstück­en an der Ellenstraß­e, bei denen der Einsatz von Archäologe­n gefordert war. Da war zunächst das Areal von Haushaltsw­aren Heitzer an der Ellenstraß­e 16, das 2017 komplett abgerissen wurde. Dabei fand man einen Teil einer Fachwerkwa­nd – ein erster Hinweis auf eine ältere Bebauung an dieser Stelle. Grabungen förderten einen Keller zutage, in dessen Wänden sich gotische Lichtnisch­en befanden: kleine Nischen, oben spitz zulaufend, in die man ein Licht stellen konnte. Solche Nischen sind heute noch an manchen Burgen zu sehen, wie Hirop zeigte: auf Burg Friedestro­m in Zons etwa oder über dem Eingang der Burg Brüggen. Auch am Klosterhof in Kempen wurden solche Nischen aus dem 14./15. Jahrhunder­t gefunden. Die Eigentümer seien „sehr erstaunt“über den Fund gewesen, berichtete Hirop, denn sie

hatten diesen Keller nie zuvor gesehen.

Neben dem Keller fanden die Experten auf dem Gelände auch eine alte Zisterne, einen Wasserspei­cher sowie die Überreste eines Wassergrab­ens. Zu den kleineren Fundstücke­n gehörten ein blau glasierter­Vogel ausWesterw­älder Keramik, ein Teil eines Zinnlöffel­s, Scherben von Keramik und Porzellan, Patronenhü­lsen aus dem Zweiten Weltkrieg und Reste von Tellermine­n, die Hirop beim Graben entdeckte.

Die nächste Grabungsst­elle für die Archäologe­n war das Gelände von Spielwaren Stein. Auch dort wurden in der Abrissphas­e Fachwerkba­lken gefunden, die auf eine ältere Bebauung schließen ließen. Man entdeckte Überreste eines Schmiedeof­ens, Teile älterer Fundamente, zwei Kellerräum­e, von denen einer, mit Tonnengewö­lbe versehen, aus dem 12./13. Jahrhunder­t datiert, ein zweiter aus dem 14./15. Jahrhunder­t, und die mit einem Durchgang verbunden waren, einen Kamin und einige Keramik-Stücke. Doch die spannendst­e Entdeckung machte Hirop bei einem Besuch auf der Baustelle, als sie die Mauern sah. Denn in den über Eck laufenden beiden Mauern, die nach Norden und Westen wiesen, sah sie hohe Schlitze im Mauerwerk: vermutlich Schießscha­rten für Bogenschüt­zen.

Beim Burgenbau wurden solche Bogenschar­ten ins Mauerwerk eingelasse­n. Ab einer gewissen Mauerstärk­e mussten Nischen eingebaut werden, damit der Schütze seinen Bogen auch gut spannen, nach oben und unten zielen konnte, wie Hirop den Zuhörern erläuterte. Solche Bogenschar­ten seien heute sehr selten, erklärte sie – denn die Burgen wurden immer wieder an die Entwicklun­g angepasst. Mit der Verbreitun­g des Schwarzpul­vers und der Feuerwaffe­n im 14. Jahrhunder­t brauchte man Bögen nicht mehr, auch die Scharten wurden verändert. Für Feuerwaffe­n verwendete man beispielsw­eise Schlüssels­charten, wie sie in Kempen noch an der Mühle am Ring zu sehen sind.

Für Hirop ist dieser Fund ein Indiz dafür, dass die Mauern mit den Bogenschar­ten, die auf dem

Grundstück an der Ellenstraß­e entdeckt wurden, aus dem 13. Jahrhunder­t stammen. Ein weiteres Detail stützt diese These: So wurden auf dem Grundstück etwa 28 cm lange Ziegelstei­ne gesichert. Solche Steine wurde 2016 auch bei einer Untersuchu­ng der Kempener Burg entdeckt und einemVorgä­ngerbau der heutigen Burg zugeschrie­ben. Sie stammen aus dem 13. Jahrhunder­t.

Dort an der Ellenstraß­e stand also im 13. Jahrhunder­t ein Gebäude, dessen Mauern mit Bogenschar­ten ausgestatt­et waren. Eine wehrhafte Anlage, U-förmig, wie Hirop anhand des Urkataster­plans verdeutlic­hte, und strategisc­h gut gelegen: Denn dieser Bau befand sich an der Grenze zwischen den beiden Honschafte­n Broich und Schmalbroi­ch, und zwar dort, wo sich die wichtigen Wege (Peterstraß­e/Kuhstraße sowie Ellenstraß­e/Engerstraß­e) kreuzten. Ein administra­tives Zentrum an den Honschafts­grenzen, wie Hirop ausführte. Handwerker und Bauern siedelten um diesen ersten Fronhof, eine Kirche wurde gebaut. Auch dafür gibt es Indizien, denn bei Untersuchu­ngen an St. Mariae Geburt wurden verkohlte Holzbalken, Lehmfachwe­rk und römische Dachziegel gefunden, die auf eine ältere Kirche an dieser Stelle schließen lassen.

Hirop ist überzeugt davon, dass es sich bei dem Gebäude an der Ellenstraß­e um den Fronhof, die „erzbischöf­liche Villa“handelte, der später zur Burg ausgebaut wurde. Als die Wehranlage für die wachsenden administra­tiven Aufgaben nicht mehr ausreichte, sich die Bebauung in dem Bereich zwischen Fronhof und Kirche verdichtet­e, sei ein Neubau notwendig geworden – an anderer Stelle, eben dort, wo heute die Kempener Burg steht. Weil die Mauern der alten Burg im Laufe der Zeit wieder benutzt worden seien, habe der Buttermark­t im südlichen Teil seine heute noch sichtbare Trapezform erhalten.

Viele Indizien sprechen dafür, dass Kempens erste Burg im Herzen der heutigen Innenstadt stand. Hirop jedenfalls ist überzeugt davon – auch wenn es einige Historiker gegeben habe, die nach dem ersten Vortrag versucht hätten, ihr diese These wieder auszureden, wie sie nun berichtete. Doch jetzt müsse man auch auf die Erkenntnis­se vertrauen. „Wir haben auch am Markt gegraben, bei ,La Piazza’“, machte sie neugierig. Zu viel wolle sie nicht verraten, doch sei dabei ein Wassergrab­en gefunden worden, „der wahrschein­lich zu unserer kleinen Burg gehört hat“.

Mehr über die Erkenntnis­se aus den Grabungen ist im neuen Heimatbuch des Kreises Viersen zu erfahren, das im November erscheint.

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FOTO: KREISARCHI­V VIERSEN, LS 11430 Die Moosgasse in der Kempener Innenstadt in den 1950er Jahren – im Hintergrun­d sind in der Mauer Schießscha­rten zu sehen (blaue Pfeile).

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