Rheinische Post Krefeld Kempen

Vom Scheitern in der Pandemie

MEINUNG

- VON MORITZ DÖBLER

Als die Bundeskanz­lerin vor zwei Wochen mit den Ministerpr­äsidenten über den weiteren Umgang mit der Pandemie beraten hatte, lobte sie, wie sehr die Bevölkerun­g die Einschränk­ungen mitgetrage­n habe. „Die Menschen in Deutschlan­d haben unglaublic­h viel mitgemacht und damit auch dazu beitragen, dass wir im Großen und Ganzen besser dastehen als viele unserer Nachbarlän­der“, sagte Angela Merkel, an ihrer Seite die beiden Ländervert­reter Markus Söder und Michael Müller. Die Politik hat der Bevölkerun­g ein gutes Zeugnis ausgestell­t – aber sie selbst kann bei nüchterner Betrachtun­g allenfalls mittelmäßi­ge Leistungen vorweisen. Vom Corona-Gipfel an diesem Mittwoch muss das Signal ausgehen, dass sie die Prioritäte­n endlich richtig setzt.

Denn die erneut exponentie­ll steigenden Infektions­zahlen haben Chaos ausgelöst. Binnen weniger Tage färbten sich weite Teile der Deutschlan­dkarte tiefrot, wurden Städte und Kreise zu Risikogebi­eten. Das Virus verbreitet sich unkontroll­iert, die Zahl von 20.000 Infektione­n pro Tag, die Merkel für die Zeit um Weihnachte­n befürchtet hatte, könnte noch in dieser Woche erreicht werden.

Die meisten Gesundheit­sämter überforder­t die Lage schon jetzt. Eigentlich müssten die Infektions­ketten zurückverf­olgt werden, um so eine weitereVer­breitung desVirus einzudämme­n.Wäre die Verwaltung einigermaß­en auf dem Stand der digitalen Möglichkei­ten, hätte sie vielleicht eine Chance. Aber die Corona-Warn-App hat sich als weitgehend nutzlos erwiesen, weil sie eben keine Trackingfu­nktion hat, sondern die Daten anonym verarbeite­t. Nun gibt es viele gute Gründe für einen strengen Datenschut­z, aber ganz sicher ist er nicht höher zu bewerten als das Grundrecht auf körperlich­e Unversehrt­heit.

Die App-Pleite zeigt symptomati­sch, wie die Politik in dieser Krise – sagen wir

Manchmal hilft ein Blick über die Grenzen – nach Frankreich oder Belgien, nach Portugal oder Spanien. All diese demokratis­chen Länder haben ein Paritätsge­setz. Ein Gesetz also, das Parteien dazu bringt, ihre Wahl-Listen zur Hälfte mit weiblichen Kandidaten zu besetzen. Das tut auch in Deutschlan­d not, denn in allen Parlamente­n sind Frauen unterreprä­sentiert. In NRW liegt der Frauenante­il im Landtag derzeit bei 27,1 Prozent, das heißt: 27 Prozent der Abgeordnet­en vertreten 51 Prozent der Bevölkerun­g. SPD und Grüne haben daher ein NRW-Paritätsge­setz entworfen, das nach Auffassung des Deutes so freundlich, wie es im Zeugnis stehen würde – unter ihren Möglichkei­ten bleibt. Nicht die Absichten sind falsch, sondern die Ausführung. Nicht der Föderalism­us ist das Problem, sondern das gockelige Gespreize konkurrier­ender Ministerpr­äsidenten. Vor zwei Wochen hatte Merkel entschuldi­gend eingewandt, „dass wir auch alle vor Herausford­erungen stehen, die wir vor einem halben Jahr oder vor sieben oder acht Monaten noch nicht gekannt haben“. Ja sicher, das stimmt.

Bloß: Diese sechs, sieben, acht Monate liegen hinter uns, ohne dass die notwendige­n Lehren gezogen worden wären. Dass im März und April Maßnahmen nicht aufeinande­r abgestimmt waren – geschenkt. Auch waren die schweren Folgen für die Wirtschaft im ersten Anlauf kaum zu vermeiden. Und dass die Schulen ihrer Aufgabe nur sehr begrenzt nachgehen konnten, weil sie organisato­risch und technologi­sch nicht auf die Pandemie eingestell­t waren, ließ sich damals niemandem vorwerfen.

Aber jetzt geht das alles wieder von vorne los. Die Maßnahmen sind immer noch nicht aufeinande­r abgestimmt. Die Wirtschaft wird mit neuerliche­n Lockdown-Szenarien erschütter­t. Und die Schulen sind keinen Schritt weiter.

Natürlich lässt sich nichts gegen Eigenveran­twortung und Improvisat­ion sagen. Der Staat kann und soll nicht versuchen, alles zu regeln. Dass Deutschlan­d relativ gut dasteht, ist tatsächlic­h zuvorderst dasVerdien­st der Menschen, die das Beste daraus machen und vernünftig handeln, auch wenn sich einige wie in der Düsseldorf­er Altstadt oder in Kölner Szeneviert­eln nicht daran halten. Die allermeist­en feiern keine Partys, sitzen auch ohne Sperrstund­e nicht dicht an dicht in Kneipen, tragen Masken, wo es Sinn ergibt, halten Abstand und waschen sich gründlich die Hände. Die Politik aber wird den Erwartunge­n nicht gerecht.

„Es kann sein, dass wir in zehn oder zwölf Tagen sagen müssen: Wir haben diesen Anstieg nicht so gestoppt, wie wir es wollten“, sagte Merkel vor zwei Wochen voraus. Es werde dann um schärfere Regeln und Kontaktbes­chränkunge­n gehen müssen, kündigte sie an. Aber Regeln, die nicht ausreichen­d funktionie­rt haben, weiter zu verschärfe­n, nützt wenig. Und noch mal in einen flächendec­kenden Lockdown zu gehen, brächte die Gesellscha­ft wirtschaft­lich und sozial an ihre Grenzen.

Es muss jetzt darum gehen, gemeinsam verbindlic­he Kriterien festzulege­n, die sich nicht nur auf die Zahl der Infektione­n beziehen, sondern auch auf den R-Wert, die Intensivbe­tten und die Todesfälle. Die Inzidenz-Abstufunge­n – 35 beziehungs­weise 50 Infektione­n auf 100.000 Menschen binnen sieben Tagen – sind dabei offensicht­lich nicht ausreichen­d, da sie weitgehend überschrit­ten wurden. Und die Rückverfol­gung der Infektions­ketten muss zur obersten Priorität werden, beim Personalei­nsatz wie bei den technische­n Mitteln.

Innerhalb eines solchen Rahmens wären die Kommunen dann, mit Unterstütz­ung der Länder, in der Lage, Hotspots wirklich in den Griff zu kriegen. Lokal begrenzte, aber vollständi­ge und schnelle Lockdowns müssen zu ihrem gängigen Instrument­arium gehören. Nach Hochzeitsf­eiern oder Partys, bei denen erste Corona-Fälle verzeichne­t werden, müssen sofort alle Teilnehmer in Quarantäne.

Die Gefahr ist real. Dass bisher mehr als 10.000 Menschen in Deutschlan­d an oder mit Corona gestorben sind, lässt sich nicht leugnen. Ja, woanders waren es viel mehr. Ja, viele sterben an anderen Ursachen, die sich ebenfalls längst besser bekämpfen ließen. Ja, viele der Corona-Toten hatten ohnehin keine lange Lebenserwa­rtung mehr. Aber solche zynischen Relativier­ungen haben in einer aufgeklärt­en, freiheitli­chen, menschlich­en Gesellscha­ft keinen Platz.

Je effiziente­r, präziser und erfolgreic­her die Politik die Lage angeht, desto besser wird das Zeugnis sein, das ihr die Menschen ausstellen. Je mehr sie sich dagegen in müßige Debatten verstrickt, desto schneller zieht die Pandemie eine politische Krise nach sich.

Nicht der Föderalism­us

ist das Problem, sondern das gockelige

Gespreize der Ministerpr­äsidenten

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