Rheinische Post Krefeld Kempen
Wie Corona den Beruf des Idols bedroht
Stars brauchen die Bühne mit Zehntausenden Zuschauern. Derzeit bleiben die Säle leer – das beeinflusst unseren Blick auf die Helden.
Zum Beispiel der 4. Oktober 2008 in der O2-Arena in Berlin. 12.000 Menschen wundern sich, dass es kurz dunkel wird. Leonard Cohen bringt seinen Song „Anthem“. Und genau in dem Moment, da er die Zeilen „There is a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in“singt, schießt ein Lichtblitz vom gegenüberliegenden Ende der Halle zur Bühne und illuminiert den Sänger. Oder der 3. August 2009 in der Arena auf Schalke. Die Band U2 drückt ein besonders energiegeladenes„Sunday, Bloody Sunday“in die Halle. 70.000 Menschen sind aus dem Häuschen, und weil der Gruppe das noch nicht genügt, schickt sie ansatzlos den Hit „Pride“hinterher: Es herrscht Ekstase. Oder der 5. August 2013 in der Kölner Arena. Ein Countdown zählt die zehn Minuten bis zum Konzertbeginn herunter. Bei null schwebt Justin Bieber auf die erleuchtete Bühne, man hat ihm Engelsflügel auf den Rücken geschnallt. 13.500 Fans kreischen und schreien so laut, dass man ein Tempotaschentuch zerreißt und sich die Fetzen in die Ohren stopft.
Diese Szenen bergen Momente, in denen aus Stars Idole werden. Idole sind Menschen in XL, überlebensgroße Persönlichkeiten, die sich jeder Fan selbst wählt. Warum er sich gerade von dieser oder jener Person angesprochen fühlt, liegt in der individuellen Persönlichkeit der Verehrenden begründet. Sicher ist: Idole helfen bei der Identitätsfindung. Man richtet sich nach ihnen aus, grenzt sich durch sie ab. Die Frage ist nur, ob es Idole weiterhin geben wird, zumindest solche aus den Bereichen Film und Musik. In Kinos werden seit Monaten nur noch wenige Zuschauer eingelassen, Blockbuster werden aufgeschoben, und Arenen-Konzerte finden gar nicht mehr statt. Bange Befürchtung also: Corona setzt dem Berufsstand des Idols so stark zu, dass es künftig keines mehr geben wird.
Idole brauchen einen Resonanzraum, und ihre Wirkung entfaltet sich erst, wenn sie durch die Anwesenheit vieler potenziert wird. Sie müssen auf dem weiten Rechteck der Leinwand oder auf einer mächtigen Bühne zu sehen sein, weil sie Projektionsflächen sind und möglichst viel Platz für alle Zuschreibungen bieten sollen. Bernd Desinger ist Schriftsteller und Chef des Filmmuseums in Düsseldorf. Er sagt, dass die großen Idole Hollywoods in ihren Verträgen einst die Zahl der Close-ups aushandelten, also der Einstellungen in einem Film, in denen ein Gesicht in Nahaufnahme zu sehen ist. Je höher diese Zahl, desto größer die Schauspiel-Persönlichkeit. „Das intensive Erlebnis des Gesichts machte das Idol“, sagt Desinger. Dafür brauche es zwingend die Leinwand. Ein auf einem Fernseher oder Computerbildschirm laufendes Bild erreiche nicht dieselbe Wirkung. Und weil Idole gerade für den Pop existenziell sind, urteilt Desinger: „Eine Kultur bricht weg.“
Aber ist das überhaupt schlimm: eineWelt ohne Idole? Desinger erinnert sich noch an sein erstes Konzert der Rolling Stones. Er war 16, nun ist er 58, und es packt ihn bis heute. „Damals ist durch die körperliche Verbindung im Raum eine Prägung entstanden“, sagt er:„Wir Menschen sind so, wir wollen gemeinsam ums Lagerfeuer sitzen und uns Geschichten erzählen.“Konzerte und Kino böten solche Lagerfeuersituationen.
Jedenfalls begann Desinger nach dem Stones-Konzert, ein Instrument zu lernen. E-Gitarre natürlich.
Junge Menschen definieren sich über die Identifikation mit einem Idol. Das heißt, sie erproben durch Zustimmung und Abgrenzung, wer sie sind. Später orientieren sie sich vielleicht um. Aber wer 1978 von den Stones verzückt war, wird auch Jahrzehnte später noch mit Gänsehaut an jenen Moment denken. Idole prägen eine ganze Biografie. Idole haben außerdem die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen und eine Zeit zu definieren. Sie stiften Gemeinschaft und ermöglichen dem Fan im besten Fall eine Haltung zur Welt.
Aufs Kino bezogen, falle die Prognose nicht so gut aus, meint Desinger. Wobei das nicht nur an Corona liege: „Das Star-System war schon vorher auf dem Rückzug.“Erscheinungen wie Alain Delon oder Julia Roberts werde es erst mal nicht mehr geben. Damit ein Filmstar zum Idol werden könne, müsse er kontinuierlich im Kinosaal aufgebaut werden. Die Vergrößerung auf
der Leinwand ist dabei ein wichtiger Aspekt. Über Social Media, Fotos und TV-Serien sei das nicht herzustellen. Das Kerngeschäft des Leinwandauftritts ist gewissermaßen die notarielle Beglaubigung des Idols. Die Heldenverehrung über Lektüre von Zeitschriften oder Postings im Internet hat als Fluchtpunkt immer die ursprüngliche Begegnung im Kinosaal. Desinger glaubt: „Marilyn Monroe hätte es ohne die Leinwand nicht gegeben.“
Und in der Musik? Peter Kemper hat Bücher über die Beatles, John Lennon, John Coltrane und zuletzt Eric Clapton geschrieben. Und er ist deutlich zuversichtlicher: „Idole sind extrem widerstandsfähig“, sagt er gelassen. „Die Unterbrechung durch Corona wird ihnen nicht schaden.“Auch er ist von der Bedeutung des Idols für die Gesellschaft überzeugt: „Sie verkörpern Genialität und Ausdauer. Man möchte sich aneignen, was sie können.“Idole seien etwas sehr Persönliches. „Sie wirken wie Orientierungspunkte.“Und gerade weil sie durch ihre Größe über dem Tagesgeschäft schwebten, stünden sie auch über „vorübergehenden Entwicklungen“wie Corona.
Kemper ist sich sicher, dass der Betrieb weiterläuft, wenn der Impfstoff erst einmal da ist. „Ab Mitte 2021 wird es wieder Konzerte geben“, sagt er. Eric Clapton etwa plant Konzerte für den Mai. Hoffen wir das Beste.
In „Anthem“von Leonard Cohen heißt es:„The birds they sang / At the break of day / Start again / I heard them say.“