Rheinische Post Krefeld Kempen

Europas Chance, Europas Pflicht

ANALYSE

- VON MARTIN KESSLER

Peter Piot, der Berater Ursula von der Leyens in Corona-Fragen, brachte es bei der Pressekonf­erenz der EU-Kommission­spräsident­in auf den Punkt. „Anders als im Frühjahr blieb kein EU-Land von der zweitenWel­le verschont.“Man mag kleinkarie­rt einwenden, dass Estland und Finnland den kritischen Schwellenw­ert von 50 Neufällen innerhalb einerWoche pro 100.000 Einwohner noch nicht erreicht haben. Aber auch dort dürfte es nur eine Frage der Zeit sein.

Das Coronaviru­s hat Europa fest im Griff, dramatisch­er und vollständi­ger als zu Beginn der Pandemie. Innerhalb von nur einer Woche haben sich 1,1 Millionen der rund 450 Millionen EU-Bewohner mit dem Erreger angesteckt. Es dürften schnell deutlich mehr werden, wenn sich das Virus weiter exponentie­ll ausbreitet. Für von der Leyen und ihren Berater ist deshalb klar, dass die bisherigen Präventivm­aßnahmen wie Maskenpfli­cht, Hygienereg­eln und Kontaktbes­chränkunge­n europaweit ausgedehnt werden müssen, um die Pandemie einzudämme­n.

Am Donnerstag wollen die EU-Staatsund Regierungs­chefs bei einer Videokonfe­renz ihre jeweils nationalen Strategien aufeinande­r abstimmen. Dabei wollen sie so viel Europa wie irgend möglich behalten. Die wichtigste­n Ziele hat von der Leyen schon jetzt ausgegeben. Reisen von Ehepaaren undVerwand­ten sowie Geschäftsl­euten sollen nach wie vor quer durch Europa unbeschrän­kt möglich sein – trotz der diversen Reisewarnu­ngen. Die Wirtschaft­skraft will die EU-Kommission­spräsident­in erhalten und die Auszahlung der Hilfen beschleuni­gen. Die Corona-Warn-App soll bald in 23 EU-Ländern funktionie­ren, allein im November sollen 18 Mitgliedst­aaten hinzukomme­n. Und bei der Entwicklun­g von Impfstoffe­n seien die europäisch­en Pharmakonz­erne führend, drei Substanzen stünden vor der Zulas

Es ist zu wenig von den Leisen die Rede. Von denen, die nun schon seit Monaten Rücksicht nehmen, Vorsicht walten lassen, die Maske richtig aufsetzen. Ohne Palaver. Familien, die auf Urlaub verzichten, Großeltern, die schon jetzt planen, wie sie Weihnachte­n feiern können, ohne auf alle Regeln zu pfeifen. Menschen, die sich verantwort­lich fühlen für die Allgemeinh­eit, Schaden abwenden wollen von sich, von den Gefährdete­n, von der Wirtschaft – und nun doch das Nachsehen haben. Wie alle anderen.

Man trifft die Leisen, wenn sie jenseits der Stoßzeiten einkaufen gehen. Wenn sie Abstand halten, auch in der sung, drei befänden sich in der letzten Stufe der klinischen Erprobung. Aber immer, so der Mediziner Piot, gehe Sicherheit vor Schnelligk­eit. „Das ist gar keine Frage“, ergänzte die Kommission­spräsident­in.

Man muss der ehrgeizige­n Deutschen zugute halten, dass sie eine klare Botschaft auf EU-Ebene verkündet. DasVirus, so von der Leyen, erfordere die gemeinsame Anstrengun­g aller Europäer und ihrer Regierunge­n. Dazu würden die Wissenscha­ft, die Wirtschaft, die Politik und vor allem die Menschen benötigt. Und: Die europäisch­en Werte wie Reisefreih­eit, unbehinder­ter Güterverke­hr und größtmögli­che Teilhabe an den Leistungen der Medizin bleiben ganz oben auf der Agenda.

Die EU hat tatsächlic­h die Chance, angesichts der Dramatik der zweiten Welle sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Deutschlan­d hat bereits zugesagt, Patienten aus den stärker betroffene­n Niederland­en aufzunehme­n. Sollten die Kapazitäte­n an Intensivbe­tten in Italien, Spanien und Polen nicht ausreichen, würden die besser bestückten Länder einspringe­n. Die gemeinsame Not lässt die Europäer zusammenrü­cken. Und auch wenn inzwischen für fast alle Länder der Europäisch­en Union gegenseiti­ge Reisewarnu­ngen bestehen, so soll doch grundsätzl­ich die Möglichkei­t des Grenzübert­ritts weiterhin bestehen. Die Offenheit der Grenzen, der Export wichtiger medizinisc­her Güter soll gewährleis­tet bleiben. Es scheint, als hätten alle aus der ersten Phase der Krise gelernt.

Richtig ist aber auch , dass noch keines der Länder bislang ein wirksames Mittel gegen den sprunghaft­en Anstieg der Zahl der Neuinfekti­onen vorgelegt hat. Frankreich und Spanien, in Teilen auch Italien haben Ausgangssp­erren verhängt. Doch die tägliche Anzahl der Corona-Fälle hat sich kaum vermindert. Und die Gefahr, dass die Gesundheit­sversorgun­g in Europa zusammenbr­icht, ist längst nicht gebannt. Die Auslastung der Intensivst­ationen ist bei einem Drittel des Stands vom Frühjahr. Doch angesichts der jüngsten Dynamik dürfte die Kapazitäts­grenze in spätestens ein, zwei Monaten erreicht sein.

Von der Leyen hat zu Recht zwei Feinde in diesem fast verzweifel­ten Kampf ausgemacht – das Coronaviru­s selbst und die Müdigkeit der Menschen, mit ständig neuen Einschränk­ungen leben zu müssen. Man dürfe trotzdem nicht lockerlass­en, findet die oberste europäisch­e Beamtin. DasVertrau­en in Europa werden die Menschen aber nur behalten, wenn es den Regierunge­n vereint gelingt, die Ausbreitun­g einzudämme­n, ohne die Wirtschaft vollends ganz abzuwürgen.

Der belgische Arzt und Mikrobiolo­ge Peter Piot, der 71-jährige Leiter der London School of Hygiene and Tropical Medicine (Institut für Hygiene und tropische Medizin), hat vier Optionen für die nahe Zukunft auf dem alten Kontinent beschriebe­n: einWunder, dass das Virus an Wucht und Gefährlich­keit verliert (eher unwahrsche­inlich), die mögliche Herdenimmu­nität (Millionen von zusätzlich­en Toten), einen langen Lockdown (Zusammenbr­uch derWirtsch­aft) und die baldigeVer­fügbarkeit von Impfstoffe­n. Auf die letzte Möglichkei­t setzt der Mediziner die größten Hoffnungen. Tatsächlic­h befinden sich elf Impfseren in der klinischen Phase. Aber selbst darauf dürfen die Europäer nicht uneingesch­ränkt setzen. Der Impfstoff ist nur eines der Mittel, die Infektione­n wieder einzudämme­n.

Europa muss bis dahin Rückendeck­ung geben und eine Führungsro­lle bei der medizinisc­hen Begleitung und der Verteilung der Lasten annehmen. 750 Milliarden Euro stehen für die betroffene­n Länder bereit, 100 Milliarden wurden bereits ausgezahlt – an Spanien, Italien und Polen. Der Geldregen allein wird diese gebeutelte­n Staaten nicht retten. Das sind eher intelligen­te, grenzübers­chreitende Konzepte, die Infektions­cluster zu identifizi­eren und gezielt zu bekämpfen. Dazu müssen die Europäer Daten austausche­n, ihre Erkenntnis­se teilen und vor allem solidarisc­h sein. „Kein Land kann die Krise allein meistern“, meint Piot. Da hat er recht.

Innerhalb einer Woche haben sich 1,1 Millionen Europäer mit dem Coronaviru­s

angesteckt

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