Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Umfragen signalisieren Bidens Sieg
DÜSSELDORF Den US-Wahlforschern steckt noch immer das Desaster von 2016 in den Knochen. In den fünf entscheidenden Staaten, auf deren Wahlmänner es ankam, sagten sie jeweils einen Sieg der Demokratin Hillary Clinton voraus, am Ende gewann sie aber alle Donald Trump. Nur das Gesamtergebnis spiegelten die Umfragen richtig, aber darauf kommt es nicht an.
Diesmal fällt der Vorsprung sogar noch klarer für den demokratischen Herausforderer Joe Biden aus. Landesweit liegt er mehr als sieben Punkte im Durchschnitt der Umfragen vor Amtsinhaber Donald Trump von den Republikanern. Nach dem amerikanischen Wahlsystem werden in den einzelnen Staaten dieWahlmänner bestimmt, die dann den Präsidenten formell wählen. Es kommt also für die Bewerber darauf an, so viele Staaten wie möglich zu gewinnen. Auch hier führt Biden, der nach Umfragen schon fest auf 216 der 538Wählmänner zählen kann. Um Präsident zu werden, braucht er eine Mehrheit von 270. Trump kann nur auf 125 Wahlmänner nach den letzten Prognosen einigermaßen setzen, wovon nur 57 richtig sicher sind.
In den wichtigen Swing States, den Staaten also, die für das Gremium der Wahlmänner das Zünglein an der Waage sein können, hat Biden in Florida, Arizona und Georgia einen hauchdünnen Vorsprung. Alle drei Staaten haben 2016 noch klar für Trump votiert. Insbesondere der Wüstenstaat Arizona galt bislang immer als sichere Bank für die Republikaner. Ein Wechsel wäre eine Sensation.
Auch in den alten Industriestaaten Pennsylvania, Ohio und Wisconsin hat Trump seinenVorsprung von 2016 eingebüßt. Hier sollte sich seine harte Politik gegen die Wirtschaftsgroßmacht China auszahlen. Denn gerade die weiße Arbeiterschaft in diesen Ländern, die immer zu den Demokraten gehalten hatte, lief 2016 scharenweise zu Trump über. Jetzt hat es Biden zumindest in den Umfragen geschafft, sie zum Teil wieder für die Demokraten zu gewinnen. Selbst in den Republikaner-Hochburgen Texas und Iowa ist der Vorsprung Trumps so geschrumpft, dass am Wahltag alles möglich erscheint.
Nimmt man all das zusammen, sieht es für Biden sehr gut aus. Das Urteil des ARD-Wahlexperten Jörg Schönenborn fällt deshalb klar aus: „In einer gut funktionierenden Demokratie und unter normalen Umständen wäre diese Wahl gelaufen.“Der Vorsprung von Biden, so der WDR-Fernsehdirektor, sei eigentlich für Trump „nicht mehr aufzuholen“. Allerdings beherrscht der Konjunktiv die Aussage des TV-Wahlanalytikers. Denn Schönenborn hält die amerikanische Demokratie für gefährdet. Er fürchtet bei einem knappen Wahlergebnis, dass Trump seine Niederlage womöglich nicht eingesteht.
Schönenborn verweist auf den Ausgang der Wahlen von 2000. Damals war lange nicht klar, wie der Swing State Florida abgestimmt hatte. Am Ende hätte sich das oberste US-Gericht für einen Wahlsieg von George W. Bush entschieden, obwohl das „mutmaßlich nicht dem Ausgang der
Wahl entsprach“, wie Schönenborn unter Berufung auf Experten anführt. Damals sei der Gerichtshof viel ausgewogener als heute besetzt gewesen, meint der Wahlbeobachter. Schönenborn: „Ich vertraue jetzt nicht uneingeschränkt den US-Gerichten.“
Es geht übrigens nicht nur um den Präsidenten. Auch die beiden Häuser des Kongresses werden wenigstens zum Teil neu gewählt. Das Repräsentantenhaus, in dem die Demokraten die Mehrheit haben, wird völlig neu bestimmt. Im Schnitt der Umfragen dürfen die Demokraten schon jetzt auf 214 der 435 Sitze zählen, die Republikaner nur auf 182. Bei 39 Mandatsträgern ist das Rennen noch ziemlich offen. Doch die Wahrscheinlichkeit für eine demokratische Mehrheit im Repräsentantenhaus ist hoch.
Im Senat werden nur 35 der 100 Sitze neu gewählt. Derzeit steht das Mehrheitsverhältnis bei 53 zu 47 zugunsten der Republikaner. Doch auch hier sind die Demokraten drauf und dran, eine Mehrheit zu gewinnen. Nach Umfragen können sie am Ende auf insgesamt 45 Senatssitze hoffen, die Republikaner auf 46. Um die restlichen noch offenen neun Sitze wird hart gerungen. Sechs davon, und das ist nicht unwahrscheinlich, würden den Demokraten eine Mehrheit im Senat bescheren. Sollte Biden Präsident werden, wäre er in der komfortablen Lage, in beiden Häusern des Kongresses über eine Mehrheit zu verfügen. Aber der Wahltag steht noch bevor, und Umfragen enthalten bei einem so komplizierten Wahlsystem eine große Fehlermarge.