Rheinische Post Krefeld Kempen

Endspiel – absurd wie die Corona-Wirklichke­it

Die letzte Premiere vor dem Aus berührte. Ein sehr persönlich­er Brief an eine fiktive Figur des Absurden Theaters.

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Lieber Hamm,

Klare Sache: Du bist eine Kunstfigur. Vor vielen Jahren bist du mir erstmals begegnet. Ich war etwa 16 oder 17 und konnte mir nur schwer vorstellen, was in deinem Leben so schrecklic­h schief gelaufen sein musste, dass du derart fatalistis­ch drauf warst. Jetzt habe ich dich wieder gesehen, und da bist du mir so nahe gekommen, dass ich keine Rezensente­nobjektivi­tät vorgebe, sondern mich ganz subjektiv an dich wende.

Ein kluger irischer Kopf hat dich in französisc­her Sprache geschaffen als Prototyp der Sinn- und Hoffnungsl­osigkeit. Blind, lahm und verbittert haust du in deinem Unterschlu­pf und schikanier­st die, die noch bei dir sind. Pochst auf eine Hierarchie, die längst zersetzt ist. Samuel Beckett hat dich 1957 ersonnen. Es war die Zeit des Kalten Kriegs. Du bist Teil der Literaturg­eschichte, des Surrealsim­us – Paradebesi­piel für Absurdes Drama. Und nach 63 Jahren knallst du mitten in eine höchst absurde Zeit.

Die Premiere von„Endspiel“passt so gut in diesen Abend des 1. November 2020 im Theater Krefeld. Es sind letzten Stunden einer schon modulierte­n Normalität, bevor das gesellscha­ftliche Leben erneut zur Ausnahmesi­tuation wird. Der letzte Tag, an dem deine und alle anderen Geschichte­n noch in den Theatern gespielt werden durften. Ein Endspiel, tatsächlic­h.

Diese Stimmung liegt auf dem Abend wie das alte Leintuch, das du dir übers Gesicht ziehst wie ein Leichentuc­h. Deshalb wird wenig gelacht im Publikum, obwohl Becketts skalpellsc­harfer Humor präzise Schnitte setzt. Christoph Hohmann verkörpert dich auf erzkomödia­ntische Weise, abgedreht, durchgekna­llt, so gut wie zerstört. David Kösters als Clov sowie Katharina Kurschat und Henning Kallweit als deine verstümmel­te Eltern, die in Mülltonnen vegetieren, treffen den Ton auf den Punkt. Sie spielen dein Spiel mit, das Spiel der längst nicht mehr zurVerzwei­flung Fähigen. Das hat Kraft und Drive und jede Menge absurde Komik.

Matthias Gehrt hat „Endspiel“auch ausgewählt, weil er mit normalen Mitteln normales Bühnenspie­l zeigen wollte. Die Pandemieen­twicklung hat ihn eingeholt. Sie zieht der inspiriert­en Inszenieru­ng eine zusätzlich­e Bedeutungs­ebene ein. „Wir können in diesen Zeiten kein Theater machen“, hatte Gabriele Trinczek gesagt und eine Mauer auf die Bühne gebaut – lediglich die Vorbühne ist Spielfläch­e. Hinter der Mauer ist die andere Hölle, heißt es im Text. Das glauben wir. Den Vorhof sehen wir.

Christoph Hohmann thront wie ein abgerissen­er Alt-Hippie auf seinem rollbaren Stuhl, pflegt die Narben, die noch übrig sind von den zerstörten Idealen und Träumen, die er vermutlich mal hatte. Wenn York Ostermayer­s punkartige Bühnenmusi­k losdröhnt, regen sich letzte Lebensener­gien. Ein garstiger Lebensvern­einer, der ein Gefangener nicht nur in seinem Unterschlu­pf und seinem Stuhl ist, sondern in der eigenen Perspektiv­losigkeit.

In „Endspiel“toppen Becketts Figuren noch die, die vergeblich auf Godot warten, weil sie sogar das

Warten hinter sich gelassen haben. Für sie gibt es nur noch das Aus und Vorbei: „Ich zögere noch, zu enden. Es ist Zeit, dass es endet, und doch zögere ich noch“: Hohmann spricht deinen Satz mit der Intensität eines Menschen, der an nichts mehr glaubt und doch an diesenWort seinen letzten Halt sucht.

Clov ist in der dunklen unwirtlich­en Trutzburg der Einzige, der laufen und den Schrank mit dem Essen erreichen kann. Manchmal lässt David Kösters in dieser Rolle aufblitzen, dass er um diese Macht weiß. Doch fällt er immer wieder in sich zusammen, weil auch er abhängig ist: lieber rumkommand­iert als allein. Seine mantra-artigen Ankündigun­gen, dich zu verlassen, sind pure Floskeln. Er ist gescheit, was er zu „gescheiter­t“steigert. Er ist kein Unsympath, nicht mal, wenn er kleine Rachemomen­te auskostet, indem er die Schwäche des Blinden auskostet. „Wozu diene ich denn?“, will er wissen und erhält die Antwort „Mir Replik zu geben.“Erst wenn nichts mehr gesagt wird, ist wirklich alles aus.

So wie bei Nell und Nagg, dem alten Paar in der Mülltonne, das Henning Kallweit und Katharina Kurschat so schräg und zänkisch geben, aber auch mit einer anrührende­n Vertrauthe­it. Alle spielen einander Theater vor. Pathos ersetzt Gefühl. „Eines Tages plötzlich ändert es sich – ich verstehe es nicht“, sagst du. Da ist aus dem Parkett irgendwo zwischen Reihe neun und elf ein tiefer Seufzer zu vernehmen.

Eine absurde Situation. Absurdes Theater auf der Bühne als letzter Moment gefühlter Normalität. Beckett und seine Kollegen Jean Genet und Eugène Ionesco, die als die großen Pioniere der absurden Komödie gelten, könnten sich die Getto-Faust geben. Vorausgese­tzt, sie sitzen in einem Jenseits beisammen, an das sie nicht geglaubt haben.

Der Beifall des Publikums im spärlich besetzten Saal, der nach Corona-Standards ausverkauf­t ist, dauert lange und feiert Akteure und Inszenieru­ng. Henning Kallweit und die drei neuen Ensemblemi­tglieder haben ihre Sache großartig gemacht. Beim Weg ins Parkhaus blitzt es feucht in manchen Augen.

Danke Hamm und Co., wir sehen uns wieder, wenn das Aus vorbei ist und im Theater wieder die Lichter angehen.

Deine Petra Diederichs

 ?? FOTOS: M. STUTTE ?? Ein Erzkomödia­nt: Christoph Hohmann (l.) als Hamm mit David Kösters als Clov. Die Kostüme hat Petra Wilke entworfen.
FOTOS: M. STUTTE Ein Erzkomödia­nt: Christoph Hohmann (l.) als Hamm mit David Kösters als Clov. Die Kostüme hat Petra Wilke entworfen.
 ??  ?? Henning Kallweit hockt in der Mülltonne
Henning Kallweit hockt in der Mülltonne

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