Rheinische Post Krefeld Kempen
Der Deutschen Lust am Lüften
Dauer-, Stoß- und Querlüften – was hierzulande den meisten normal erscheint, imponiert in Corona-Zeiten im Ausland.
Als Stubenhocker sind die alten Germanen nicht gerade bekannt. Ihr Alltag spielte sich zum großen Teil draußen an der frischen Luft ab. Aber schon damals achteten unsere Vorfahren darauf, dass ihre Behausungen gut gelüftet werden konnten, denn oft waren sie reichlich verqualmt. Damit der Rauch vom Herdfeuer entweichen konnte, gab es im Dach ihrer finsteren Katen eine geschwungene Öffnung, die aussah wie ein Auge. Man entdeckt die Form noch heute an manch schmuckem Einfamilienhaus. „Windauge“nannten die Altvorderen den Abzug, aber bei ihnen klang das hübsche Wort einen Hauch anders. Etwa, wie bei den Engländern heute: „window“.
Während sich auf den britischen Inseln der ursprüngliche germanische Begriff gehalten hat, schleicht sich auf dem Festland schon im 8. Jahrhundert das lateinische „fenestra“ins Althochdeutsche ein. Vielleicht fanden die Leute, dass es sich schicker und moderner anhörte. Tatsache ist, dass sich das Volk der Dichter und Denker auch zu Liebhabern ausgesprochen dichter Fenster entwickelte, wohingegen es in nicht wenigen Altbauten im angelsächsischen Raum bis heute so erbärmlich zieht, als wären noch die Windaugen in Betrieb.
„Ich denke an dichte Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen“, sagte selbst Angela Merkel einmal auf die Frage, was ihr beim Stichwort Deutschland alles in den Sinn komme. Lange her. In diesen Tagen mahnt die Kanzlerin eher an, was mit dem Schwund an natürlicher Frischluftzufuhr in geschlossene Räume hierzulande stets einherging: die Kultur des Lüftens.
Eine sehr deutsche Kultur, geradezu eine „nationale Obsession“, wie der britische „Guardian“unlängst befand, in dessen Verbreitungsgebiet Virologen nun ebenfalls empfehlen, öfter auf Durchzug zu schalten, um infektiöse Aerosole loszuwerden. Viele Deutsche öffneten ihre Fenster zweimal am Tag – sogar im Winter – und bedienten sich ausgefeilter Techniken, verriet die Zeitung ihren staunenden Lesern: „Querlüften“sei üblich, „Stosslüften“gar. Obendrein seien deutsche Fenster mit einer ausgeklügelter Mechanik versehen, die verschiedenste Grade der Öffnung erlaube: „In Germany, windows are designed with sophisticated hinge technology that allows them to be opened in various directions to enable varying degrees of Lüften.“
Lüften. Ein faszinierendes Wort, noch dazu eins mit Umlaut, bereichert den Sprachschatz eines Landes, das normalerweise massenhaft Anglizismen exportiert. Crazy! Dabei klingt Lüften natürlich deutlich sympathischer als „Blitzkrieg against Corona“, wie es der „Sun“mit Blick aufs deutsche Stoßlüften einfallen könnte.
Die deutsche Lust auf frische Luft kommt nicht von ungefähr.„Off‘nes Fenster Tag und Nacht / Hat manchem schon viel Heil gebracht“, lautet ein altes Sprichwort, wobei der Interpretationsspielraum dieses Zweizeilers reichlich Luft nach oben bietet. Aber schon die Epoche des Sturm und Drang bringt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts frischen Wind in die deutsche Literatur. Ideen der Aufklärung durchwehen althergebrachte Gedankengebäude. „Zurück zur Natur!“fordert Jean-Jacques Rousseau seine Zeitgenossen zum Durchatmen auf.
Damit ist es in den Städten jener Tage nicht besonders gut bestellt. Es müffelt gewaltig von der Gosse her, und die Wissenschaft hält die antike Theorie der Griechen, dass dadurch grassierende Epidemien übertragen werden, keineswegs für erstunken und erlogen. Lust aufs Lüften macht das nicht.
Ein Jahrhundert später haust das aufkommende Industrieproletariat in düsteren, engen und hoffnungslos überbelegten Bauten, es herrscht dicke Luft. Zustände, so katastrophal, dass in der Weimarer Verfassung das Ansinnen festgeschrieben wird, von Staats wegen jedem Deutschen eine „gesunde Wohnung“zu sichern. Die Wandervogel-Bewegung stillt die Sehnsucht nach frischer Luft dort, wo sie zu bekommen ist: außerhalb der Städte. Hitler sind diese frühen Ökos suspekt, lieber sollen deutsche Knaben im Jungvolk zum ersten Mal „eine frische Luft bekommen“. Zugleich lässt der Diktator keinen Zweifel am eigentlichen Ziel:„…und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“
„Licht, Luft und Sonne für alle“indes avanciert vor 100 Jahren zum Leitgedanken der berühmten Bauhaus-Architektur. Eine gigantische
Wohnreform-Bewegung entsteht. Schon 1935 gründet der Stuttgarter Wilhelm Frank eine Firma, die den von ihm erfundenen Dreh-Kipp-Beschlag industriell fertigt, durch den sich Fenster nicht nur seitlich öffnen, sondern auch schräg stellen lassen. Der Wohnungsbau der jungen Bundesrepublik folgte ebenfalls von Anfang an gesundheitspolitischen Grundsätzen mit ausreichend Belüftungs- und Besonnungsmöglichkeiten.
Heute sind die Deutschen eine Nation, in der wenig ungeregelt bleibt – und sie sind nicht zuletzt ein Volk von Mietern. Beides hat dazu beigetragen, dass das Lüften zwecks Vermeidung von Schimmelbildung sogar genauestens vertraglich vereinbart ist. Aber im Grunde werden damit gewissermaßen offene Türen eingerannt. Und den wenigen – meist jugendlichen – Lüftungsgegnern in diesem Land geht gerade jetzt ihr wichtigstes Argument flöten: Es sei noch niemand erstunken, aber durchaus schon jemand erfroren. Corona macht’s möglich. Ob Querlüften jedoch bei Querdenkern hilft, darf bezweifelt werden.
Der britische „Guardian“spricht von einer „nationalen
Obsession“