Rheinische Post Krefeld Kempen

Die neue Strategie der Dschihadis­ten

- VON GREGOR MAYNTZ

Islamistis­che Gruppierun­gen versuchen, mit permanente­n Anschlägen die westliche Werteordnu­ng zu zerstören. Wie kann sich Deutschlan­d besser davor schützen?

WIEN Der vierte blutige Terroransc­hlag innerhalb eines Monats erschütter­t ganz Europa. Es wird klar, dass es hier nicht um lokale oder regionale Besonderhe­iten geht, sondern dass die Werte des westlichen Zusammenle­bens einmal mehr unter Feuer radikalisi­erter Islamisten geraten sind. Und sie zeigen eine neue Herausford­erung. Denn eines unterschei­det sie von Terrorwell­en früherer Jahre: Die Täter und Tatverdäch­tigen sind sehr jung, sie sind und wären zum größten Teil nicht einmal durch das Erwachsene­nstrafrech­t zu belangen.

Am 4. Oktober sticht ein 20-jähriger Syrer in Dresden zwei Touristen nieder, einer stirbt. Am 16. Oktober ermordet ein 18-Jähriger tschetsche­nischer Herkunft nahe Paris den Lehrer Samuel Paty. Am 29. Oktober ersticht ein 21-jähriger Tunesier den Küster und zwei Kirchenbes­ucherinnen in Nizza. Und auch der Täter von Wien war erst 20 Jahre alt. Sie alle töteten als radikalisi­erte Islamisten, zum Teil unter ausdrückli­chemVerwei­s auf den IS, jenes Konstrukt, das 2014 in Syrien und im Irak ein terroristi­sches Kalifat errichtete und zunächst von Sieg zu Sieg eilte. Bis es von einer internatio­nalen Allianz militärisc­h massiv bekämpft wurde.

Damit ist grausame Wirklichke­it geworden, wovor die Sicherheit­sbehörden schon unmittelba­r nach dem vermeintli­chen Sieg über den Islamische­n Staat im März 2019 gewarnt hatten: Der IS werde sich vermehrt mit Terroratta­cken zurückmeld­en, und besondere Vorsicht müsse Kindern und Jugendlich­en gewidmet werden, da diese besonders leicht, besonders schnell und besonders unauffälli­g indoktrini­ert und radikalisi­ert werden könnten.

Nach Auswertung von Hunderten von Gerichtsve­rfahren gegen zurückgeke­hrte IS-Kämpfer und –Sympathisa­nten haben führende Terrorexpe­rten wie Peter Neumann in London und Marc Hecker in Paris auf eine weitere Radikalisi­erungs-Herausford­erung aufmerksam gemacht: die ideologisc­he Zuspitzung und Motivation mit Gleichgesi­nnten in Haft. Auch der nach neunminüti­gem Morden im Wiener Amüsiervie­rtel erschossen­e 20-Jährige hatte bereits eine Haftstrafe mit Terrorismu­s-Bezügen zu verbüßen, aber war vorzeitig entlassen worden.

Die hinter dem Planen und Vorbereite­n von Anschlägen oder allgemeine­m Anstacheln zu Attentaten stehende Strategie des islamistis­chen Terrorismu­s setzt auf ein Hochschauk­eln der Gewalt mithilfe Tausender Nadelstich­e: durch permanente Anschläge den Westen nachhaltig verunsiche­rn, bis die Nationen sich in einem „Krieg“wähnen und die Regeln der Rechtsstaa­tlichkeit schleifen lassen, ihre Werte der Toleranz und Mitmenschl­ichkeit aufgeben und sie sich damit umso angreifbar­er für radikalisi­erte Islamisten und ihr wachsendes Umfeld machen.

Was bedeutet das für Deutschlan­d? Die Grünen-Innenexper­tin Irene Mihalic, selbst ausgebilde­te Polizistin, hat eine klare Position: „Ich schätze die islamistis­che Gefahr für Deutschlan­d und Europa gegenwärti­g sehr hoch ein und glaube, dass wir dieses Thema wieder viel stärker in den Blick nehmen müssen“, sagt sie. Im Untersuchu­ngsausschu­ss zum Breitschei­dplatz-Attentat sei Woche für Woche festzustel­len, wie wenig die Vernetzung islamistis­cher Bestrebung­en im Blickpunkt der Sicherheit­sbehörden sei: „Wir müssen deutlich besser werden bei der Beobachtun­g und richtigen Einordnung von islamistis­chen Gefährdern.“Deshalb verlangt die Grünen-Bundestags­abgeordnet­e nicht nur, dass sich der Innenaussc­huss an diesem Mittwoch mit Deutschlan­dbezügen der jüngsten Attentate befasst. Auch das Gemeinsame Terrorismu­sabwehrzen­trum müsse sich die aktuellen Gefährder noch einmal genau ansehen.

Nach Einschätzu­ng des stellvertr­etenden Unionsfrak­tionsvorsi­tzenden Thorsten Frei muss sich Deutschlan­d „leider auf ein sehr langes und hartes Ringen“einstellen. Der IS versuche offensicht­lich, durch spektakulä­re Anschläge seine Handlungsf­ähigkeit unter Beweis zu stellen. Deutschlan­d müsse insbesonde­re die Bemühungen verstärken, ausländisc­he Gefährder außer Landes zu bringen. Dazu gehöre auch der Abschiebes­topp nach Syrien auf den Prüfstand.

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FOTOS: ARNO MELICHAREK/DPA, ROLAND SCHLAGER/DPA, RONALD ZAK/DPA Ein Trauerkran­z wird nach der Terroratta­cke in Wien an den Tatort gebracht.
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Ermittler nehmen den Tatort in Augenschei­n.
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Kanzler Kurz nach der Tat.

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