Rheinische Post Krefeld Kempen
Der Fall Greta und die Meldeketten-Lücken
Hätte der gewaltsame Tod des Mädchens verhindert werden können? Gesichert ist: Meldeketten wurden nicht eingehalten. Jetzt hat das Landesjugendamt Rheinland nachgebessert, damit sich solch’ ein Fall nicht wiederholt.
Der Mordprozess gegen die 25-jährige Erzieherin Sandra M., die im April in der Viersener Kita „Am Steinkreis“die ihr anvertraute kleine Greta so schwer verletzt haben soll, dass das Mädchen im Mai trotz intensivmedizinischer Behandlung im Krankenhaus verstarb, wirft auch die Frage auf, was bei den Meldeketten der Behörden schief gelaufen ist. Erst die polizeilichen Ermittlungen brachten ans Tageslicht, dass es bereits in drei Kitas, in denen die Erzieherin zuvor gearbeitet hatte, medizinische Notfälle bei Kindern gab, mit denselben Symptomen wie bei Greta:
Im Familienzentrum Florastraße in Krefeld musste zwischen November 2017 und Februar 2018 dreimal der Rettungswagen gerufen werden, weil ein Junge unter Atemnot litt und röchelte.
In der Kita Mullewapp in Kempen soll die Angeklagte bei vier Gelegenheiten zwischen August und November 2018 einen zweijährigen Jungen verletzt haben. Am 30. November wurde der Notarzt alarmiert, weil das Kind einen Atemstillstand erlitten hatte. Es kam mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus.
In der Tönisvorster Kindertagesstätte Biberburg musste am 29. September 2019 ein Mädchen reanimiert werden, weil es infolge Sauerstoffmangels blau angelaufen war und das Bewusstsein verlor.
Keine der Einrichtungen hatte diese Vorkommnisse an die Aufsichtsbehörde – das Landesjugendamt beim LVR – gemeldet. Dessen Chef Lorenz Bahr hatte im Familienausschuss des NRW-Landtages erklärt: „Die Meldungen, die hier vorgesehen waren, sind nicht erfolgt.“Die Häufung der Fälle wäre dem Landesjugendamt nach Worten Bahrs „wahrscheinlich aufgefallen“. Sein Haus prüfteVersäumnisse der Kitas. Ergebnis: Da die Kitas von medizinischenVorerkrankungen bei den betroffenen Kindern ausgegangen seien, hätten sie zwar ihre Meldepflichten verletzt, aber nicht vorsätzlich gehandelt, so Bahr. Auch die Staatsanwaltschaft sah keine strafbaren Versäumnisse.
„Bei der Aufarbeitung wurde aber deutlich, dass einzelnen Trägern implementierte Meldeverfahren in den Einrichtungen fehlen“, so LVR-Sprecher Till Döring. Vor zwei Wochen verschickte deshalb das Landesjugendamt eine überarbeitete Fassung seiner „Handreichung zum Umgang mit Meldungen“. Döring:
„In der nun vorliegenden überarbeiteten Fassung werden die Bedeutung und die Verfahrenswege für die Träger deutlicher beschrieben.“So sei die Arbeitshilfe konkret um Beispiele für meldepflichtige Ereignisse, in denen ein Rettungswagen hinzugezogen werden muss, ergänzt worden.
Die Stadt Viersen hatte den Notarzteinsatz gemeldet, doch auch die Stadtverwaltung sah sich in der Kritik. Grund: Sandra M. war eingestellt worden, ohne dass sie Ar
beitszeugnisse vorgelegt hatte. „Zum Zeitpunkt der Einstellung waren uns keine Erkenntnisse bekannt, die grundsätzliche Zweifel an der Eignung der heutigen Angeklagten für den Erzieherberuf begründet hätten“, sagt Stadtsprecher Frank Schliffke. Er betont: „Die Eignung zum Erzieher-Beruf wird durch eine staatlich geregelte Prüfung festgestellt. Bewerber müssen ein einwandfreies erweitertes Führungszeugnis vorlegen.“Beides habe Sandra M. vorgelegt. Schliffke: „Der Umstand, dass auf Basis ständiger Rechtsprechung der Gerichte ,wohlwollend’ zu verfassende Arbeitszeugnisse nur einen sehr begrenzten Aussagewert haben, wurde bereits im Frühjahr bis hin zur Landesebene ausführlich diskutiert.“Dabei sei deutlich geworden, dass die im Zuge der Ermittlungen bekannt gewordenen Vorwürfe nicht Gegenstand eines Arbeitszeugnisses hätten sein dürfen, so der Stadtsprecher. Schliffke: „Auch erfassen Arbeitszeugnisse keine zukünftigen Ereignisse.“