Rheinische Post Krefeld Kempen
Chronisch coronisch
Eine Wiesbadener Jury kürte „Corona-Pandemie“zum Wort des Jahres 2020.
2020 ist ein Jahr der bösen Überraschungen, daran besteht kein Zweifel. Nicht nur, dass sich das Coronavirus in nahezu jedenWinkel unseres Alltags eingenistet hat, es hat zudem unsere Sprache mit einerVielzahl unsympathischer Ausdrücke infiziert. Superspreader ist einer davon, Inzidenz ebenfalls, R-Wert sowieso. Wer hätte sich also gewundert, wenn die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) nicht irgendetwas aus dieser unheilvollen Begriffswolke zum Wort des Jahres gekürt hätte? Alle. Aber wer findet es originell, dass die Wahl auf „Corona-Pandemie“fiel? Niemand.
Das klingt nach einer ziemlich langweiligen Überschrift über die vielen exotischen, technischen und manchmal lustigen („Covidioten“) Vokabeln, welche die Bürger 2020 notgedrungen pauken mussten. Die Jury in Wiesbaden aber hat ihre eigenen, strengen Regeln: Nicht die am häufigsten verwendeten Ausdrücke seien ausschlaggebend, sondern solche, „die das zu Ende gehende Jahr in besonderer Weise charakterisieren“. Die Zusammensetzung
„Corona-Pandemie“stehe sprachlich für die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Juroren hätten sogar erwogen, alle zehn Begriffe der Top Ten einfach nur„Corona“zu nennen, berichtet der GfdS-Vorsitzende Peter Schlobinski.
Da werden sich nicht wenige darüber freuen, dass es zur Abwechslung auch zwei Schlagworte aus dem Nicht-Seuchen-Umfeld auf die GfdS-Liste geschafft haben. Auf dem zweiten Platz landete „Lockdown”, auf dem dritten „Verschwörungserzählung”, auf die Plätze vier bis zehn verschlug es die Formulierungen„Black Lives Matter“,„AHA“, „systemrelevant“, „Triage“, „Geisterspiele“, „Gendersternchen“und „Bleiben Sie gesund!“.
Den letztgenanntenWunsch hätte man gern auf dem Siegertreppchen gesehen, schwingt in ihm doch jener Optimismus mit, den man angesichts der wie Aerosole im Sprachraum herumschwirrenden Gefahrenworte jetzt am meisten brauchen könnte. „Latenzzeit“gehört dazu, „Inkubationszeit“, „Letalität“, „Übersterblichkeit“, „Herdenimmunität“, „Flatten the Curve“, „Hotspot“und „Social Distancing“. Sie weisen auf die vielzitierte neue Normalität hin, die jedoch nie normal sein wird. Ein Teil davon wird irgendwann im linguistischen Orkus landen, ein anderer womöglich Spuren hinterlassen, die sich ebenso tief in das Gedächtnis von Generationen einprägen könnten, wie „Steckrübenwinter“,„Rosinenbomber“oder „hamstern“es einmal taten. Man wird sehen.
Dass der Wortschatz der Deutschen durch die Pandemie größer geworden ist – dieser Eindruck täuscht. Entsprechende Untersuchungen in den Online-Medien haben gezeigt: Das Vokabular hat sich stark auf das Thema fokussiert – und damit insgesamt reduziert. Es gibt ja noch immer kaum andere Themen.
Das wird sich im kommenden Jahr hoffentlich ändern. Chronisch coronisch darf 2021 nicht werden. Schon gar nicht erneut dasWort des Jahres.
Die Worte „Lockdown” und „Verschwörungserzählung” belegten die
Plätze zwei und drei