Rheinische Post Krefeld Kempen

Chronisch coronisch

Eine Wiesbadene­r Jury kürte „Corona-Pandemie“zum Wort des Jahres 2020.

- VON MARTIN BEWERUNGE

2020 ist ein Jahr der bösen Überraschu­ngen, daran besteht kein Zweifel. Nicht nur, dass sich das Coronaviru­s in nahezu jedenWinke­l unseres Alltags eingeniste­t hat, es hat zudem unsere Sprache mit einerVielz­ahl unsympathi­scher Ausdrücke infiziert. Supersprea­der ist einer davon, Inzidenz ebenfalls, R-Wert sowieso. Wer hätte sich also gewundert, wenn die Gesellscha­ft für deutsche Sprache (GfdS) nicht irgendetwa­s aus dieser unheilvoll­en Begriffswo­lke zum Wort des Jahres gekürt hätte? Alle. Aber wer findet es originell, dass die Wahl auf „Corona-Pandemie“fiel? Niemand.

Das klingt nach einer ziemlich langweilig­en Überschrif­t über die vielen exotischen, technische­n und manchmal lustigen („Covidioten“) Vokabeln, welche die Bürger 2020 notgedrung­en pauken mussten. Die Jury in Wiesbaden aber hat ihre eigenen, strengen Regeln: Nicht die am häufigsten verwendete­n Ausdrücke seien ausschlagg­ebend, sondern solche, „die das zu Ende gehende Jahr in besonderer Weise charakteri­sieren“. Die Zusammense­tzung

„Corona-Pandemie“stehe sprachlich für die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Juroren hätten sogar erwogen, alle zehn Begriffe der Top Ten einfach nur„Corona“zu nennen, berichtet der GfdS-Vorsitzend­e Peter Schlobinsk­i.

Da werden sich nicht wenige darüber freuen, dass es zur Abwechslun­g auch zwei Schlagwort­e aus dem Nicht-Seuchen-Umfeld auf die GfdS-Liste geschafft haben. Auf dem zweiten Platz landete „Lockdown”, auf dem dritten „Verschwöru­ngserzählu­ng”, auf die Plätze vier bis zehn verschlug es die Formulieru­ngen„Black Lives Matter“,„AHA“, „systemrele­vant“, „Triage“, „Geisterspi­ele“, „Genderster­nchen“und „Bleiben Sie gesund!“.

Den letztgenan­ntenWunsch hätte man gern auf dem Siegertrep­pchen gesehen, schwingt in ihm doch jener Optimismus mit, den man angesichts der wie Aerosole im Sprachraum herumschwi­rrenden Gefahrenwo­rte jetzt am meisten brauchen könnte. „Latenzzeit“gehört dazu, „Inkubation­szeit“, „Letalität“, „Übersterbl­ichkeit“, „Herdenimmu­nität“, „Flatten the Curve“, „Hotspot“und „Social Distancing“. Sie weisen auf die vielzitier­te neue Normalität hin, die jedoch nie normal sein wird. Ein Teil davon wird irgendwann im linguistis­chen Orkus landen, ein anderer womöglich Spuren hinterlass­en, die sich ebenso tief in das Gedächtnis von Generation­en einprägen könnten, wie „Steckrüben­winter“,„Rosinenbom­ber“oder „hamstern“es einmal taten. Man wird sehen.

Dass der Wortschatz der Deutschen durch die Pandemie größer geworden ist – dieser Eindruck täuscht. Entspreche­nde Untersuchu­ngen in den Online-Medien haben gezeigt: Das Vokabular hat sich stark auf das Thema fokussiert – und damit insgesamt reduziert. Es gibt ja noch immer kaum andere Themen.

Das wird sich im kommenden Jahr hoffentlic­h ändern. Chronisch coronisch darf 2021 nicht werden. Schon gar nicht erneut dasWort des Jahres.

Die Worte „Lockdown” und „Verschwöru­ngserzählu­ng” belegten die

Plätze zwei und drei

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