Rheinische Post Krefeld Kempen

Der neue Glaube an die Wissenscha­ft

ANALYSE

- VON MARTIN KESSLER

Der jüngste Bericht der Weltwetter­organisati­on ist eindeutig. Auch das Jahr 2020 dürfte zu den drei wärmsten seit der systematis­chen Aufzeichnu­ng von Klimadaten zählen. Von Januar bis Oktober lagen die von Meteorolog­en ermittelte­n Wärmemaße zwischen 1,11 und 1,23 Grad über dem Schnitt der Jahre von 1850 bis 1900. Und am Nordpol übertrafen die Temperatur­en sogar ihren langjährig­en Schnitt zwischen 1981 und 2010 um fünf Grad.

Ein klarer wissenscha­ftlicher Befund und Futter für die weltweite Klimabeweg­ung, die zuletzt durch die populistis­chen Präsidente­n Donald Trump (USA) und Jair Bolsonaro (Brasilien) in die Defensive geraten war. Immerhin haben klimabeweg­te junge Leute von San Francisco bis Sydney in ihrem Kampf einen starken Verbündete­n: die vorherrsch­ende Meinung der Klimawisse­nschaft, aber auch anderer Bereiche der globalen Forschung. Vor allem die im UN-Weltklimar­at IPCC zusammenge­schlossene­n Experten werden nicht müde, auf die drastische­n Folgen der Erderwärmu­ng hinzuweise­n, wenn die Weltgemein­schaft den Ausstoß des Klimakille­rs Kohlendiox­id nicht ausreichen­d reduzieren kann.

Für die jungen Menschen, die sich bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie in kreativen Schulstrei­kaktionen für mehr Klimaschut­z starkmacht­en, sind die Wissenscha­ftler des IPCC, in Deutschlan­d vor allem durch das Potsdam-Institut für Klimafolge­nforschung vertreten, fast so etwas wie Helden.„Vereinigt euch hinter der Wissenscha­ft“, rief die Ikone der Klimaschut­zbewegung, die schwedisch­e Schülerin Greta Thunberg, aus. Ihr und ihren Mitstreite­rn ging es vor allem darum, mit wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen die Politik unter Druck zu setzen. „Man kann nicht mit der Physik um Abkommen feilschen“, brachte die Stockholme­r Aktivistin ihren Ansatz auf den Punkt.

Ein Arzt mit Schutzbril­le und Visier, ganz in blaue Plastikkle­idung gehüllt, umarmt einen alten Mann. Der Patient hat den Kopf mit den verdrückte­n Haaren an die Schulter des Arztes gelehnt wie ein Kind, das Schutz sucht. Es ist ein Bild größter Innigkeit, das da gerade in den digitalen Netzwerken weitergere­icht wird. Ein Bild, das von Erschöpfun­g, Ohnmacht, Einsamkeit erzählt und von einem Moment der Geborgenhe­it. Es ist zugleich ein Foto, das die Unerbittli­chkeit der Corona-Pandemie in den Blick rückt: Trost ist für Corona-Patienten nur distanzier­t zu haben. Und doch scheint diese zutiefst menschlich­e Geste der Um

So viel Wissenscha­ftsgläubig­keit ruft auch Kritik hervor.„So wichtig und ernst die Absicht ist und auch so völlig legitim, so bedenklich kann man finden, dass auf diese Weise ganze Komplexe von Wertentsch­eidungen invisibili­siert werden“, also unsichtbar gemacht werden, moniert Peter Strohschne­ider, der langjährig­e Präsident von Wissenscha­ftsrat und Deutscher Forschungs­gemeinscha­ft in seinem kürzlich erschienen­en Buch„Zumutungen“. Dort unterzieht er das Wissenscha­ftsverstän­dnis der Klimabeweg­ung, aber auch der Corona-Gesundheit­spolitik einer kritischen Prüfung. Sein Befund: Wissenscha­ft wird als abgeschlos­sene Ordnung unbestreit­barer Fakten aufgefasst, denen„so allgemein wie unmittelba­r normative Verbindlic­hkeit zukommen soll“. Im Klartext: Was die Wissenscha­ft als bedenklich ansieht, müssen die Politiker unmittelba­r umsetzen.

Es geht Strohschne­ider nicht darum, die Erkenntnis­se der Klimaforsc­her als absurd darzustell­en oder sie grundsätzl­ich in Zweifel zu ziehen. Er kritisiert den Automatism­us und dieVorstel­lung, dass Politiker nur noch Erfüllungs­gehilfen allwissend­er Forscher sein dürfen. Dem widerspric­ht die grundlegen­de Annahme der Wissenscha­ftstheorie, dass alle Erkenntnis nur vorläufig ist. Die Forschung verläuft in einem ganz ähnlichen Prozess wie die Demokratie, in dem im Wettstreit der Ideen, Studien und Ergebnisse und der gegenseiti­gen Kritik das Wissen erweitert wird.

Die Hinwendung zum vermeintli­ch festen Fundament der Wissenscha­ft ist zudem einigermaß­en neu in Bewegungen der kosmopolit­isch-liberalen Linken. Die Bürgerinit­iativen, die in den 70er- und 80er- Jahren gegen Atomkraftw­erke, Gentechnik und bisweilen auch Computerte­chnologie zu Felde zogen, versuchten gerade, die Gewissheit­en der Forscher auf diesem Gebiet zu erschütter­n. Sie kritisiert­en die Null-Fehler-Technologi­e und die Beherrschb­arkeit radioaktiv­er Abfälle als Anmaßung und Arroganz der Wissenscha­ft.

Der Satz „Die Atomenergi­e ist beherrschb­ar und ungefährli­ch“hat eine ganze Generation von Naturwisse­nschaftler­n geprägt, bevor er – zumindest in Deutschlan­d – komplett demontiert wurde. Inzwischen wollen selbst Konservati­ve und Liberale von der einstigen Wundertech­nologie, die alle Energiepro­bleme löst, nichts mehr wissen.

Das mag bei Klimafrage­n anders sein. Nach der großen Mehrzahl der bisherigen Erkenntnis­se stellt die Erderwärmu­ng tatsächlic­h eine ernste und gut begründete Bedrohung der menschlich­en Zivilisati­on dar. Aber damit umzugehen, ist dem demokratis­chen Prozess oder der internatio­nalen Diplomatie vorbehalte­n. Letztlich müssen die gewählten Vertreter der Bevölkerun­g zwischen den Folgen des Klimawande­ls und den ökonomisch­en und sozialen Kosten abwägen.

Ganz ähnlich ist die Rolle der Wissenscha­ft in der Corona-Pandemie.Wichtige Forscher wie der Virologe Christian Drosten oder der Physiker und Epidemiolo­ge Michael Meyer-Hermann haben derzeit großen Einfluss auf die Politik. Der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) spricht gar vom „Primat der Medizin“. Hier dankt die Politik ab, die nach einhellige­n Bekundunge­n der gewählten Mandatsträ­ger weiterhin das Heft in der Hand behalten will. Übrigens wünschen das auch viele Wissenscha­ftler, die ihre Rolle schon als viel zu stark empfinden und darauf verweisen, dass sie nur für ihr enges Fach sprechen könnten.

In Zeiten großer Krisen, so der Berliner Politikwis­senschaftl­er Wolfgang Merkel in einem „FAZ“-Beitrag, gibt es eine Sehnsucht nach der Wissenscha­ft „als neuem Philosophe­nkönig, der sittlich wie kognitiv auf der Höhe der Probleme am besten durchregie­rt“. Dem setzt er „die Schleuse des Parlaments“entgegen, dem allein die Bürger Folge leisten müssten, weil sie ihm ihren politische­n Willen übertragen haben.

„Man kann nicht mit der Physik feilschen“Greta Thunberg

Klimaaktiv­istin

Das Buch Peter Strohschne­ider: Zumutungen. Wissenscha­ft in Zeiten von Populismus, Moralisier­ung und Szientokra­tie. Kursbuch-Edition, 288 S., 22 Euro.

Newspapers in German

Newspapers from Germany