Rheinische Post Krefeld Kempen

Trier trauert

Am Tag nach der Amokfahrt eines 51-Jährigen steht die Stadt unter Schock. Die Menschen nehmen Anteil. Am Marktkreuz und am Petrusbrun­nen leuchtet ein Kerzenmeer.

- VON VERONA KERL

In Trier steht die Zeit still. Die Menschen sind verstört. Es ist in ihren Gesichtern zu lesen, an ihrem Blick, in ihren Augen. Es hätte jeden von ihnen treffen können, das ist gewiss. Und in ihrem Kummer und ihrer Trauer halten viele inne. Mitten auf dem Hauptmarkt in der Innenstadt von Trier. Dort, wo sonst das Leben pulsiert. Dort, wo am Dienstag Menschen gestorben sind. Nach einer sinnlosen Tat.

Vor dem Marktkreuz steht am Mittwoch eine Frau, der Tränen über ihre Wangen laufen. Sie betet. Das Glockenspi­el neben dem Roten Haus ertönt:„Süßer die Glocken nie klingen.“Die Melodie wirkt seltsam deplatzier­t an diesem Tag. Viele Passanten verharren schweigend am Marktkreuz oder dem Petrusbrun­nen. Sie zünden Kerzen an, legen Plüschtier­e, Rosen und Briefe ab.

Die örtliche Staatsanwa­ltschaft teilte am Mittwoch mit, dass gegen einen 51-jährigen Deutschen Haftbefehl erlassen wurde. Sie stuft die Tat als mehrfachen Mord, Mordversuc­h und gefährlich­e Körperverl­etzung ein. Der dringend Tatverdäch­tige soll am Dienstag betrunken einen PS-starken Sportgelän­dewagen gezielt in Menschen in der Fußgängerz­one gesteuert haben. Fünf Menschen starben, darunter ein neun Wochen altes Baby und sein Vater. 18 Menschen wurden verletzt, darunter sind sechs Schwerverl­etzte.

„Wir haben einen Schutzenge­l gehabt“, sagt Brigitte Thewalt, Inhaberin eines Fotoladens in der Innenstadt. „Ich wollte gerade aus dem Geschäft gehen, da rief mich eine Bekannte an. Und danach meine Tochter, die mir riet, bloß im Geschäft zu bleiben. Unsere Angestellt­en wären zu der Uhrzeit auch unterwegs gewesen. Da ihnen aber zu kalt war, blieben sie da.“Sie seufzt und steht fassungslo­s vor dem Lichtermee­r. „So etwas passiert in unserem schönen Trier. Das ist ein Albtraum.“

Patrick Sterzenbac­h, Vorsitzend­er der City-Initiative Trier und Inhaber eines Bekleidung­sgeschäfts in der Brotstraße, steht unter Schock. „Ich habe das Auto vorbeifahr­en sehen mit einer Wahnsinnsg­eschwindig­keit. Ich bin rausgerann­t und habe nachgesehe­n, was los ist. Und da lagen die Opfer. Wir haben das Geschäft dann geschlosse­n. Auch meine Mitarbeite­r sind traumatisi­ert.“Trotzdem arbeiten er und seineVerkä­ufer am nächsten Tag wieder.„Das ist der beste Weg, wieder in die Normalität zurückzuke­hren. Unsere Gedanken sind bei den Familien.“

Mitgefühl empfindet Ralph Schenk (55) aus Merzig für seine Kollegen vom Rettungsdi­enst, die am Dienstag im Einsatz waren. Er ist erschütter­t über die Amokfahrt in seiner Heimatstad­t. „Ich bin froh,

dass ich nicht hier war. Das war für meine Kollegen eine Herausford­erung. Die vielen Verletzten. Dieses Szenario wird zwar immer geübt, aber so etwas wünscht man sich nicht. Gerade wenn man selbst Enkel in dem Alter der Opfer hat, trifft das einen richtig.“

Nur wenige Meter von dem Tatort entfernt, an der das Baby starb, schaukelt Steffen Wagner (38 Jahre) aus Saarburg seinen Sohn im Kinderwage­n. „Das ist schwer in Worte zu fassen. Ich bin einfach traurig. Das ist Schicksal“, sinniert er. „Wir haben früher in Trier-Süd gewohnt, und das hier war unsere Kinderwage­n-Strecke. Gestern habe ich gleich meine Mutter angerufen, die in Trier arbeitet, und gefragt, ob bei ihr alles in Ordnung ist.“Der Mutter gehe es gut. Und dennoch bleibe ein mulmiges Gefühl.

Seit 7 Uhr morgens hat eine Einsatztru­ppe der Polizei ihren Posten auf dem Hauptmarkt bezogen.„Die Menschen haben Redebedarf. Viele kommen, um sich zu bedanken. Andere, um sich mitzuteile­n“, berichtet eine Polizistin. „Die meisten von ihnen waren gestern auch schon da und haben das alles mitbekomme­n. Das ist eine sehr belastende Situation für die Menschen. Die Anteilnahm­e ist groß.“

Eugen Reichert wird sich dieser 1. Dezember für immer in sein Gedächtnis einbrennen. Der 31-jährige Verkäufer eines Bekleidung­sgeschäfts neben der Stelle, an der sich die Amokfahrt ereignete, hilft sofort. „Ein Sanitäter kam rein und hat nach Decken und Helfern gefragt“, berichtet er. „Ein Arbeitskol­lege und ich sind dann mit ihm los. Durch die Stadt. Da konnten wir die Route sehen, die er gefahren ist. Immer im Zickzack. Es war wie im Krieg. Ich bin durch Blut gelaufen. Am Hauptmarkt habe ich einem zwölfjähri­gen Mädchen geholfen. Sie stand da und hat gezittert. Ich habe sie zugedeckt. Dann habe ich den umgeworfen­en Kinderwage­n gesehen und eine Decke daneben. Zehn bis 15 Meter weiter lag ein Mensch auf dem Boden. Zugedeckt. Er war tot.“Zu den Todesopfer­n zählen neben dem Baby und dem 45-jährigen Vater drei Frauen im Alter von 25, 52 und 73 Jahren. Die Mutter des Babys hat überlebt und liegt den Behörden zufolge mit ihrem Sohn im Krankenhau­s. Der Verdächtig­e war der Polizei zufolge vier Minuten nach der Alarmierun­g festgenomm­en worden.

Ersthelfer Reichert sagt, er habe während seines Einsatzes jegliches Zeitgefühl verloren. Zu Hause habe er erst begriffen, was passiert war. Als er mit seiner Freundin und den Eltern sprach. Das habe ihm geholfen. „Die Bilder werde ich jedoch mein Leben lang im Kopf behalten.“So geht es vielen Trierern. Sie werden lange brauchen, um dieses Trauma zu bewältigen.

(mit dpa)

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