Rheinische Post Krefeld Kempen
Zwei Schulen entstehen — und vergehen
In Kempen ist eine Diskussion um die Gestaltung des künftigen Schulcampus entbrannt: Wo soll die Gesamtschule ihren Neubau bekommen? Wie soll die Sanierung des Luise-von-Duesberg-Gymnasiums ablaufen? Fast ist in Vergessenheit geraten, dass die Stadt einmal über zwei weiterführende Schulen verfügte, die ihr alle Ehre machten: die Realschule und die Hauptschule. Ein Rückblick.
KEMPEN Es ist die Zeit der Baby-Boomer. Die Zukunftsaussichten sind gut, die Geburtenzahl steigt rasant und mit ihr die Zahl der Schüler. Allein in den Kempener Volksschulen vermehrt sich die Zahl der Klassen von 48 im Jahre 1956 auf 77 in 1966. An derWiesenstraße entstehen eine Grundschule („Mädchenschule“) mit Turnhalle und eine Sonderschule; seit 1964 wächst an derWachtendonker Straße der Neubau des Mädchengymnasiums. Dazu kommen zwei Schulen, mittlerweile untergegangen, mit denen viele Kempener heute noch viel verbinden: die Realschule und die Hauptschule.
Die Realschule verdankt ihre Entstehung dem „Bildungsnotstand“, der zu Beginn der 1960er-Jahre herrscht. Vor allem zur Heranbildung des Ingenieur-Nachwuchses fehlen weiterführende Schulen. Vor diesem Hintergrund beschließt am 29. Januar 1963 der Kempener Kreistag die Errichtung einer Kreisrealschule in Kempen. Zu ihrem Leiter wird Herbert Hubatsch bestimmt. Als Nachtjagdpilot am Niederrhein hängen geblieben, unterrichtet der gebürtige Schlesier seit 1953 Biologie und Deutsch am Irmgardis-Stift in Süchteln. Eine Besonderheit: In einem Nebengebäude der neuen Kempener Schule, auf demselben Hof, sollen fünf Klassen des Kreis-Abendgymnasiums unterkommen.
Ganz im Stillen hat im Juli 1965 auf einem Weizenfeld an der Wachtendonker Straße, hinter der Tankstelle Wabersek, der Schulbau begonnen. Bis er fertig ist, organisiert Hubatsch für die ersten beiden Anfangsklassen drei Räume in seiner alten Schule. Sechs Wochen lang pendeln die ersten 80 Realschüler per Bus zwischen Kempen und Süchteln hin und her. Dann kommen sie in einer Baracke unter, in Rekordzeit errichtet auf dem Hof der Kempener Knabenvolksschule (später: Martin-Schule). Aber durch den Bau-Boom der 1960er-Jahre sind Arbeitskräfte und Material knapp. Erst am 8. September 1966 wechseln die Realschüler, brav in Zweier-Reihen marschierend, aus der
Knabenvolksschule in das Gebäude des späteren Abendgymnasiums, das als Erstes bezugsfertig ist. Am 7. September 1967 kann der Neubau der Kempener Realschule von den nunmehr elf Klassen schließlich bezogen werden. Am 18. Juni 1968 werden als letzte Gebäude Aula und Turnhalle eingeweiht. 1977 wird die Realschule von der Stadt Kempen übernommen.
Dann bekommt die Schule einen eigenen Namen: Seit dem 1. August 2002 heißt sie nach dem sozialkritischen Schriftsteller und Kinderbuchautor Erich Kästner. Seine Romanfiguren Pünktchen und Anton bilden nun das Schul-Emblem, untertitelt von „Gemeinsam auf dem Weg ins Leben!“Um die Schüler auf diesemWeg möglichst fit zu machen, entwickelt das Realschul-Kollegium eine Fülle von Initiativen und Projekten. Im Juli 2011 erhält die Kempener Realschule vom NRW-Bildungsministerium das „Gütesiegel für Individuelle Förderung“.
1968 führen neue pädagogische Vorstellungen zu einer grundlegenden Reform des Volksschulwesens. In Kempen bedeutet das, im Gebäude der früheren katholischen Knabenvolksschule, Am Gymnasium, wird die Gemeinschaftshauptschule eingerichtet. Ihr Leiter ist bis 1986 der bisherige Rektor der Knabenvolksschule, Anton Hitpaß. Bald ist der Altbau zu klein, denn hier sind auch noch zwei Sonderschulklassen und eine Klasse der Mädchengrundschule untergebracht. Im September 1971 ist ein Neubau fertig gestellt, mit elf Normal-Klassenräumen, zwei Naturkunderäumen, einem Sprachlabor, einem Fotolabor und einer Lehrküche mit Essraum sowie zwei Werkräumen im Souterrain. Im Schuljahr 1972/73 wird das 10. Schuljahr eingeführt, mit 30 SchülerInnen aus dem Kempener Stadtbezirk, zu dem damals noch Hüls gehört. Sie streben die
Fachoberschulreife an. Und schaffen sie in der Regel.
Von Beginn an ist hier höchst erfolgreiche Arbeit geleistet worden. 1978 und in den Folgejahren pendelt die Schülerzahl um 1000. Mit 52 Kolleginnen und Kollegen und 33 Schulklassen ist die Kempener Hauptschule eine der größten in Nordrhein-Westfalen. Der Raummangel wird geschickt umschifft: durch Pavillons, zusätzliche Räume im neu errichteten Schulzentrum am Luise-von-Duesberg-Gymnasium und in der Fröbelschule. 2011 schließlich bekommt die Hauptschule eine Mensa. Seit 1989 nennt sie sich Martin-Schule: Nach einem Heiligen, der alljährlich im Kempener Martinszug gefeiert wird, der durch die Mantelteilung und sein Leben für Tugenden wie Solidarität und Hilfsbereitschaft steht. 2007 – die Schule hat 621 Schüler in 21 Klassen – wird Heiner Wirtz, meinungsstarker und humorvoller Rektor seit 1987, verabschiedet. Ihm folgt Hubert Kalla, Schulleiter bis 2015.
Ein Jahr später zeichnet sich das Ende der Martin-Schule und der Erich Kästner Realschule ab. Der Zusammenhang: Auch die Kempener Hauptschule wird schließlich von dem Trend eingeholt, dass Eltern ihre Kinder lieber zur Realschule oder zum Gymnasium schicken. Seit 2004 gehen auch ihre Anmeldungen zurück. Wenn die Martin-Schule angesichts drastisch abnehmender Schülerzahlen es nicht schafft, zweizügig zu bleiben, muss sie in einer Gesamtschule aufgehen. Das aber würde eine Kettenreaktion auslösen, denn – so folgert die Landesregierung – neben einer Gesamtschule und zwei Gymnasien könne sich auch die Erich Kästner Schule – zweitgrößte Realschule in Nordrhein-Westfalen – nicht mehr halten. Dabei hatte sie 2012 noch 121 Anmeldungen, 2013 werden es 149 sein. Aber: Die bestehenden Schulgebäude im Schulzentrum reichen nicht aus, neben einer fünf- bis sechszügigen Gesamtschule noch eine kleinere – voraussichtlich zweizügige – Realschule mit Schulräumen zu versorgen. Eine politische Entscheidung, die zwei höchst erfolgreichen Schulen den Todesstoß versetzt.
Zum Beginn des Schuljahrs 2014/15 startet die neue„Städtische Gesamtschule Kempen“im ehemaligen Hauptschulgebäude an der Fröbelstraße mit sechs Klassen pro Jahrgang. Im Juni 2019 verabschieden die letzten beiden (kommissarischen) Schulleiter, denen die Aufgabe zugefallen ist, ihre Schulen auslaufen zu lassen, ihre letzten Abschlussschüler: Cornelia Klasen für die Erich Kästner Realschule im Kolpinghaus, Reiner Dickmanns für die Martin-Schule in der Mensa der Schulaula. Zwei Erfolgsgeschichten finden ihren Abschluss.