Rheinische Post Krefeld Kempen
Mobbing-Fall wühlt Finnland auf
Der Tod eines 16-Jährigen kratzt die Fassade des „glücklichsten Landes“an.
HELSINKI Fällt Schul-Mobbing in Finnland bald unter das Strafrecht? Dies verlangt jetzt eine Initiative, die 50.000 Unterschriften für eine entsprechende Novelle im Parlament in Helsinki eingereicht hat. Auslöser für die Forderung war ein extremer Fall, der Finnland immer noch beschäftigt: Anfang Dezember wurde die nackte, verstümmelte Leiche eines 16-Jährigen auf einer Baustelle in Helsinki gefunden. Über drei Stunden soll die Tortur nach Angaben der Gerichtsmedizin gedauert haben. Bald darauf wurden drei Gleichaltrige als Tatverdächtige gefasst, die das Vergehen gestanden.
Die Tat hatte eine Vorgeschichte: Zwei der Jugendlichen waren Mitschüler, die das Opfer über Jahre gemobbt hatten, auch mit Gewalt. Schule, Lehrer, Sozialbehörden wurden informiert, griffen jedoch nicht ein. Der Jugendliche litt darum zuletzt an schweren Depressionen. In der vergangenen Woche wurde zu seinem Gedenken in vielen Orten des Landes Kerzen auf die Straßen gestellt, das Land ist noch immer erschüttert.
Nach Außen gilt Finnland als Erfolgsmodell. Die UNO kürte es 2020 im dritten Jahr in Folge als „glücklichstes Land“der Welt, was internationale – mitunter bunte und unkritische – Medienberichte zur Folge hatte. Jedoch konsumierten schon vor der Pandemie von den 5,5 Millionen
Finnen allein über 400.000 Erwachsene Antidepressiva, deren Gebrauch während der Epidemie um neun Prozent gestiegen ist. Jeder siebte Finne litt schon an einer klinischen Depression. Nach einer etwas älteren Erhebung würden 70 Prozent von Kindern aus sozial schwächeren Familien Mobbing erleben. Offiziell gehen die Zahlen leicht zurück.
An der Universität Turku wurde zusammen mit dem Bildungsministerium Anti-Mobbing-Konzept entwickelt, das beispielsweise nach Großbritannien, Spanien und Mexiko exportiert wurde und auch Anti-Mobbing-Unterricht mit Schülern umfasst. Doch funktioniert nur, wenn es auch angewendet wird. „Auch hier gab es den Fall, dass viele die Lage des Jugendlichen erkannt, aber nicht geholfen haben“sagte Elina Pekkarinen, Ombudsfrau
für Kinderrechte, dem TV-Sender Yle. Schuld seien zu viele Behörden, Personalwechsel, unklare Verantwortung und Kommunikationsmängel.
Die Bürgerinitiative glaubt darum, dass es Druck durch das Strafrecht in den Schulen braucht. Den Verantwortlichen müsse vermittelt werden, dass „Gewalt in der Schule eine äußerst ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“darstelle. Damit würde in Zukunft eine größere Aufmerksamkeit bei Schulen und Sozialbehörden erreicht.
Die Täter, die ihr Vergehen mit einem Überkonsum an Mixed-Martial-Arts-Filmen (gemischte Kampfkünste) verteidigten, hätten sich nach Ansicht des Bildungsminister Jussi Saramo auch nicht durch schärfere Gesetze abhalten lassen. Der Politiker, der der sozialdemokratischen Minderheitsregierung angehört, ist gegen eine Gesetzesänderung und plädiert für eine Verbesserung der Kommunikation.
Kommunikation ist ein wichtiges Stichwort im Land der eher schweigsamen Menschen. Bei aller Progression, die derzeit in dem Land der Wälder und Seen etabliert wurde, gilt es unter Männen, aber auch unter Frauen nicht so sehr als opportun, sein Leid zu klagen. Das könnte mit der traditionellen Nationaleigenschaft, dem „Sisu“, zu tun haben, was so viel wie „klaglose Beharrlichkeit“bedeutet.