Rheinische Post Krefeld Kempen
Schiefbahn: Wohlstand durch Wasser und Weide
Flurnamen wie Schwanenheide, Tupsheide, Diepenbroich und Unterbroich verraten den Ursprung der Alt-Gemeinde Schiefbahn aus einem verlandeten Rheinarm, der Heide und Sumpf hinterließ.
SCHIEFBAHN „Schiefbahn?“Dahinter steckt eine Zielscheibe. Der Ortsname Schiefbahn kommt von einer Scheibenbahn. Von einem Schießstand, auf dem die Schützen der Umgebung sich im Gebrauch von Armbrüsten übten. Eine Abbildung der Zielscheibe, auf die sie dabei schossen, zeigte das Wappen, das die Gemeinde von 1947 bis zu ihrer Eingliederung 1970 in die neu geschaffene Stadt Willich geführt hat.
Indes: Als der Name „Schyffbahn“um 1430 erstmals auftauchte, da konnte von einer geschlossenen Siedlung noch keine Rede sein. Damals war der Landstrich nur schwach von zerstreuten Gehöften besetzt. Kurz: „Schiefbahn“war ursprünglich eine Flurbezeichnung. Die stand für ein Gelände in der Nähe der heutigen Pfarrkirche. Eben für einen Schießstand unter freiem Himmel. Den benutzten vor allem die 1449 erstmals erwähnten Sebastianus-Schützen.
Schiefbahn war die jüngste der vier Gemeinden, die ab 1970 die Stadt Willich bildeten. Die Gegend war zunächst zum Siedeln wenig geeignet. Dazu war sie einfach zu feucht. Die Ursache liegt in der letzten Eiszeit, vor etwa 240.000 Jahren. Damals wurde der Rhein von einem Gletscher nach Westen abgedrängt. Im Winter war er zugefroren, und wenn er im Frühsommer auftaute, wuschen seine Wassermassen eine Niederung aus, die sich von Kaarst bis nach Oedt zieht. In diesem ursprünglichen Rheinbett verläuft heute die Niers.
Im Lauf der Jahrtausende verlandete der alte Rheinarm zu Sumpf und Moor. „Bruch“nannte man solche sumpfigen Niederungen im Mittelalter. Der sumpfige Landstrich trug den Namen „Unterbruch“. In einem Verzeichnis, das Einkünfte der Neersener Vögte im Zeitraum von 1307 bis 1368 aufzählt, taucht die Bezeichnung („Underbroick“, „Underbroich“) erstmals auf. Woher der Name kommt? Das sumpfige Tal der Niers, das Bruch, bildete die Süd- und Westgrenze eines ausgedehnten mittelalterlichen Verwaltungsbezirks, der Kempener Mark. Von Kempen aus gesehen, lagen die Sumpfgebiete zu beiden Seiten der Niers unterhalb von Kempen. So mag der Name „Unterbruch“entstanden sein; in Abgrenzung zu den beiden Siedlungsbezirken, die im Kempener Land nach Bruchgebieten benannt worden waren: Broich und Schmalbroich. Aber das ist nur eine Vermutung.
Eine intensive römische Besiedlung hat es im Unterbruch nicht gegeben, dazu war die Länderei zu feucht und zu sandig. Eine Bezeichnung wie „Römerstraße“suggeriert, dass römische Legionäre durch Schiefbahner Gebiet marschiert seien. Da sollte man vorsichtig sein. Marschiert sind die Legionäre weiter westlich auf einer um 70 nach Christus angelegten Militärstraße. Von Tongeren über Mönchengladbach kommend, trat sie bei Neersen ins heutige Willicher Stadtgebiet ein und führte in nordöstlicher Richtung an den Votzhöfen vorbei in Richtung Fischeln zum Kastell Gelduba (heute: Gellep), das zeitgleich mit der Militärstraße angelegt wurde. Die antiken Gräber und Siedlungsreste, die man in Schiefbahn
gefunden hat, stammen zwar aus der Römerzeit, wurden aber von einheimischen Germanen angelegt. Der Schwerpunkt der römerzeitlichen Besiedlung lag wegen der besseren Bodenqualität in Alt-Willich, nordwestlich des späteren Dorfes und bei den Streithöfen. Das zeigt die Kartierung der römischen Fundstellen durch Christoph Reichmann in der 2003 erschienenen Willicher Stadtgeschichte.
Bis zum 12. und 13. Jahrhundert stand im späteren Schiefbahn nur wenig bebaubares Land zur Verfügung. Zuerst besiedelt wurden die aus dem Sumpfland herausragenden Hügel, die Donken. Etwa ab 1250 machte man sich daran, Sümpfe durch das Anlegen von Drainage-Gräben zu entwässern. Auf den Kanten des Nierstales wurden einzelne Höfe angelegt. Diese mittelalterliche Besiedlung ging vor allem von zwei Herrenhöfen in Uerdingen und Anrath aus, die dem Kölner Erzbischof gehörten. Hier liegt der Ursprung des heutigen Schiefbahn. Mit zunehmender Besiedlung bildete sich aus dem östlichen Teil des Unterbruchs die Gemeinde Schiefbahn; der westliche Teil kam zur späteren Gemeinde Oedt.
Die Bevölkerung im östlichen
Unterbruch, dem heutigen Schiefbahn, wurde schließlich so zahlreich, dass sie nach einem Gotteshaus verlangte. Wann das erste Kirchlein im Unterbruch gebaut wurde, ist unklar. Die Ersterwähnung einer Kapelle in Schiefbahn findet sich in einem Rentbuch, einem Einkünfteverzeichnis, der Pfarre im Jahre 1470. Das kleine Gotteshaus war dem heiligen Hubertus geweiht – einem Grafen, der ein so leidenschaftlicher Waidmann war, dass er sogar am Karfreitag auf die Jagd ging. Da erschien, so berichtet eine fromme Legende, im Geweih eines Hirschs, auf den er schießen wollte, ein strahlendes Kreuz, und die Stimme des Heilands ertönte: „Hubertus, ich erlöste dich – warum verfolgst du mich?“Woraufhin der Waidmann zum frommen Einsiedler wurde. Und zum Patron der Schützen. Das dürfte der Grund gewesen sein, warum man die Kapelle, die nun in der Nähe der alten Schützen-Zielscheibe entstand, nach Hubertus benannte.
In ihrer Hubertus-Kapelle konnten die Schiefbahner zwar den sonntäglichen Gottesdienst besuchen, aber ihre Kinder taufen und ihre Toten begraben lassen mussten sie vorerst noch in Anrath. Erst 1548 wurde Schiefbahn zum selbstständigen Pfarrbezirk erhoben. 50 Jahre später wurde die Kapelle durch eine Kirche ersetzt, die bis 1830 als Hubertus-Wallfahrtskirche Ziel vieler Pilger war. In den Jahren 1853 bis 1855 errichtete man die heutige Pfarrkirche St. Hubertus.
Die wasserreichen Bruchgebiete, hervorgegangen aus einem eiszeitlichen Rheinarm, machten noch lange ein Drittel des Gemeindegebiets aus. Im Sommer boten sie eine üppig grüne Grasfläche, die man vielfach nutzen konnte. Nicht zum Ackerbau, dazu war der Boden zu karg. Aber als Weide für Pferde, Kühe und Gänse; zum Stechen von Torf und Sammeln von dürrem Holz als Heizmaterial; zum Sammeln von Laub, Gras und Farnkraut. Die boten Streu und Futter für das Vieh. Tausende von Gänsen, die hier täglich das Gras abschnäbelten, brachten den Einwohnern stattliche Gewinne, und der Gänsehirt wurde zur Symbolfigur der Gemeinde.
Und das Dorf Schiefbahn? Das verdankt seine Entstehung der Hubertus-Kapelle. Der Platz vor der Kirche wurde nach jedem Gottesdienst zum Treffpunkt der umliegenden Bauern. Hier, wo ein früher Warenaustausch stattfand, siedelten sich die ersten Häuser von Handwerkern und Gewerbetreibenden an; zu beiden Seiten einer alten Fernverkehrsstraße, die von Neuss über Kaarst und durch Schiefbahn nach Venlo führte und von dort nach Brügge und Antwerpen, den Handelszentren der damaligen Zeit. Allzu beeindruckend darf man sich diese Straße nicht vorstellen: Sie bestand aus einem schmalen, künstlich aufgeschütteten Damm. Weil er erhöht durch das Gelände führte, nannte man ihn in manchen Teilen „Hohe Straße“oder „Hochstraße“. Im Bereich des Dorfes war er etwas prächtiger ausgeführt und hieß deshalb „Breite Straße“.
Wahrscheinlich 1608 wurde der Ort zum Schutz vor umherstreifenden Soldatenrotten in den Rang einer „Festung“erhoben. Bis 1620 erhielt sie drei Tore – das Bruchtor, das Nieder- oder Leventor und das Ober- oder Növertor. Zwei Wälle, mit einem Wassergraben dazwischen, schützten fortan den Dorfbezirk und sorgten für seine rasche Besiedlung. Von 1575 kletterte die dörfliche Bevölkerung von rund 400 Einwohnern auf 1500 im Jahr 1798.
Zum Unterschied vom übrigen Unterbruch hieß dieser geschützte Dorfbereich „Zur Schiefbahn“. Im Schutz von Wall und Graben durften Märkte abgehalten werden, was Handel und Handwerk förderte.