Rheinische Post Krefeld Kempen
Kinderqualen im Kurheim
Zur Therapie sind Kinder bis in die 90er-Jahre in die Einrichtungen geschickt worden. Doch dort erfuhren sie auch Demütigung und Missbrauch, berichten Betroffene. In Bad Sassendorf hat die Aufarbeitung der Geschehnisse in einem ehemaligen Heim begonnen.
mir immer geschrieben hat, bekam ich erst in meinen Koffer gelegt, als wir abreisten“, sagt Claudia. „Dass sie mir immer Comics und Kinderbilder ausgeschnitten und die Briefe damit verziert hat, habe ich erst hinterher gesehen.“
In den Kurheimen wurden zudem Therapie- und Behandlungsmaßnahmen durchgeführt. Als Solekurort gab es in Bad Sassendorf einen Sole-Raum, in dem salzhaltige Luft inhaliert wurde. Auch Solebäder hat es gegeben. „War man fertig, wurde man mit einem Saunakübel eiskaltem Wasser übergossen“, sagt Petra*, die 1979 in Kur war. „Bis heute erschrecke ich, wenn mich jemand mit kaltem Wasser bespritzt.“
Am Nachmittag ging es in den Kurpark. „Dort mussten wir in einen dunklen Gang gehen“, sagt Claudia – das Gradierwerk des Solekurorts. „Wir haben uns sehr gefürchtet, viele haben geweint, davon hat aber keiner Notiz genommen, weil wir diesen Gang allein durchgehen mussten. Es war dunkel, tropfte von der Decke und es war sehr kalt. Wir hörten gruselige Stimmen.“
So schlimm es in der Kinderkur auch gewesen sein mag – für einige Betroffene begannen die eigentlichen Probleme erst zu Hause. Wer von seinen Erlebnissen im Heim berichtete, dem wurde oft nicht geglaubt. Die Geschichten wurden als Kindermärchen abgetan.
Viele Betroffene berichten, dass sie sich nur bruchstückhaft an die Erlebnisse erinnern können. Andere, wie Maria*, haben ihre Erinnerung ganz verloren. Sie war 1973 als Zehnjährige im Haus Hamburg. Erinnern könne sie sich an nichts, was vor ihrem 14. Lebensjahr passierte. „Seit November letzten Jahres bin ich bei einem Arzt in Hypnosetherapie, um meine komplett ausgelöschten Kindheitserinnerungen hervorzuholen“, sagt Maria. „Ich denke, von uns ‚Erinnerungslosen' gibt es eine große Anzahl.“
Doch Haus Hamburg hat noch ein weiteres Problem: „2004 fragte mich eine Psychotherapeutin in ihrer Anamnese, was ich über das Alter von sechs Jahren wusste“, sagt Petra*. „Ich sagte nur ‚Nichts, es ist wie ein schwarzes Loch'.“Fünf Jahre später kamen die Erinnerungen im Rahmen einer Traumatherapie wieder hoch. „Damals hat mich ein Arzt mehrmals sexuell oral missbraucht, während ich krank alleine in einem Zimmer mit karierter Bettwäsche lag“, sagt Petra. „Er drohte mir, es sei besondere Medizin, und wenn ich es nicht tun würde, würde ich meine Eltern und Geschwister nie wiedersehen.“Bisher handelt es sich dabei um einen Einzelfall, sagt die
DAK, die das Haus ab 1960 betrieben hat. Weitere Berichte über Missbrauch im Haus Hamburg habe es noch nicht gegeben.
Als eine der ersten Trägerinnen der Kinderkurheime hat die DAK die Betroffenen Ende vergangenen Jahres öffentlich um Verzeihung gebeten, Hilfe angeboten und Aufklärung angekündigt. „Wir haben damit begonnen, alle Hinweise von Betroffenen zu sammeln“, sagt Pressesprecher Jörg Bodanowitz. Die DAK arbeite in vollem Umfang mit den Betroffenen zusammen – doch die Pandemie mache die Aufklärungsarbeit schwierig. Persönliche Treffen sind derzeit nicht mehr möglich. Trotzdem arbeite die Krankenkassen nach wie vor mit Hochdruck an der Aufklärung. Als nächstes soll etwa eine Stelle für einen Wissenschaftler ausgeschrieben werden, der die Aufklärung betreut.
Heute existiert das Haus Hamburg in Bad Sassendorf nicht mehr. Die Gebäude wurden abgerissen und durch eine moderne Reha-Klinik ersetzt. Übrig geblieben sind nur die Erinnerungen, ein paar Postkarten und Schriftstücke.
* Alle Namen der Betroffenen von der Redaktion geändert.