Rheinische Post Krefeld Kempen
Zweimal um die Welt
75.000 Kilometer zu Fuß in zwölf Jahren: Der Kölner Sebastian Reuter ist damit rechnerisch fast zweimal um den Globus gelaufen. Über die schönsten Wanderstrecken, ausgefranste Laufschuhe und einen persönlichen Wandel.
KÖLN Etwa einen Monat ist es her, da brach Sebastian Reuter mal wieder zu einem „Mammutmarsch“auf. 150 Kilometer zu Fuß, von Köln nach Koblenz und dann wieder nördlich bis Bad Honnef. Die Startzeit hat er in einem Video auf Youtube festgehalten. 6.48 Uhr an einem Samstag Ende Februar, man sieht in der Dunkelheit nur ein paar Straßenlaternen und Sebastian im Licht seines Handys. Er läuft 24 Stunden lang, macht nur kurze Pausen, schlafen kommt nicht infrage. Keine Woche später startet er wieder – Köln nach Aachen, 76 Kilometer in zwölf Stunden. „Ich laufe einfach los. Mehr ist am Ende nicht drin“, sagt er. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte.
Sebastian läuft und läuft und läuft. Das war nicht immer so. Vor zwölf Jahren ging es los mit der „Lauferei“, wie der Kölner sein Hobby nennt. Er war 27 Jahre alt und wog 152 Kilogramm. „Ich war extrem übergewichtig und wollte was dagegen tun. Im Sport bin ich eine
Niete.“Es sei ihm also nichts Anderes übriggeblieben, als einfach zu Fuß zu laufen. Am Anfang waren es 15 Minuten in die eine Richtung und 15 Minuten zurück. Nach seinen ersten 30 Kilometer am Stück musste er mit einem Stock gehen: „Danach wurde es immer mehr.“
Seit 2009 hat der Kölner 75.000 Kilometer hinter sich gelassen, er ist also rein rechnerisch fast zweimal um die Erde gelaufen. Die Strecken misst er akribisch, die Ziele werden immer größer. Vor drei Jahren ist er das erste Mal die ganze Nacht durchgelaufen. „Ich hatte massive Bedenken, aber es war überhaupt kein Problem“, sagt er heute. Er hatte, mal wieder, eine neue Grenze nach außen verschoben. Das überraschte ihn damals selbst, heute erscheint es ihm selbstverständlich.
Beim Mammutmarsch nach Koblenz macht er seine erste Pause in Andernach, Kilometer 71. Wie hält er das durch? „Durch die Bewegung kommt die Müdigkeit gar nicht, man ist die ganze Zeit in Action. Die ganze Zeit herumsitzen wie ein Nachtportier,
das ist schwer.“Mit seiner Leidenschaft steckt Sebastian mittlerweile auch andere an, seit einigen Jahren schneidet er seine Fußmärsche zusammen und lädt sie auf Youtube hoch. Zehntausende Menschen sehen dort seine Videos. Viele sind selbst Wanderer, manche stoßen zufällig darauf. Viele verfallen schnell dem Charme seines Kölner Dialekts und der Offenheit, mit der er über sein Leben spricht. „Ich erzähle über meine berufliche Situation, die Studienzeit, über den Krach mit der Freundin, belanglose Kleinigkeiten. Manche Zuschauer schreiben mir: ‚Du kannst uns zeigen wat du willst, wir finden es alles interessant.`“
Dass er sich selbst nicht zu ernst nimmt, hat wohl auch etwas mit dem Youtube-Erfolg zu tun. „Ich bin einfach ein normaler Typ, der läuft“, sagt Sebastian. Früher war er Lkw-Fahrer, danach hat er als Elektrotechniker gearbeitet. In der Corona-Krise ist er arbeitslos geworden. Es gibt einen Satz, den Sebastian immer wieder sagt. Ob es um Blasen an den Füßen geht oder es ausgerechnet am Tag einer längeren Wanderung regnen soll: „Da muss man halt durch.“
Diese Einstellung zieht sich bis zu den Schuhen durch. 2000 Kilometer hält ein Paar bei ihm im Schnitt aus. In einem seiner neuesten Videos zeigt er sein altes Paar, das er gerade gewechselt hat. An der Ferse ist das Futter weg, ein Stück Plastik schaut dort raus, an der Außenseite des linken Schuhs hat der kleine Zeh ein Loch durchgebohrt. Profi-Marathonläufer tauschten ihr Schuhwerk spätestens nach 700 Kilometern aus, sagt Sebastian. „Das halte ich für völlig übertrieben.“Nicht einmal die Marke seines letzten Paares hat er sich gemerkt – ob er einen Schuh im Laufladen kauft oder im Supermarkt, sei im Grunde egal. Hauptsache bequem.
Was empfiehlt ein Wanderer, der so viele Kilometer schon hinter sich hat? Die eine schönste Strecke gebe es nicht, sagt Sebastian. „Aber viele Regionen, in denen ich mich sehr wohl fühle.“Stromaufwärts von Köln nach Koblenz etwa, im Siebengebirge, an der Mosel bei Pommern und Pochen. Als er beim Mammutmarsch Ende Februar den Drachenfels erblickt, schwärmt er im Video über seine Schönheit: „Hier geht mir das Herz auf, das gefällt mir unendlich gut.“Wenn man schöne Strecken laufe, werde auch die Laufleistung besser. Unschön dagegen sei ein flaches Feld, wo das Auge überall nur das gleiche sieht. Aber selbst wenn er mal stundenlang durch ein langweiliges Feld läuft, nun ja: Da muss man halt durch.