Rheinische Post Krefeld Kempen

Das lange Spiel der Könige

Dank der Pandemie und der Serie „Das Damengambi­t“boomt das Postkarten­schach.

- VON ANJA SOKOLOW

BERLIN (dpa) In der Wohnung von Ludger Heiermann liegen Schachbüch­er verteilt. Immer wieder zieht der Berliner Fachlitera­tur zu Rate, immer auf der Suche nach dem perfekten Zug. In der Pandemie hat der 62-Jährige noch mehr Zeit, seiner Leidenscha­ft, dem Fernschach, zu frönen. „Theater, Musik und andere Kulturvera­nstaltunge­n sind ja gerade nicht möglich“, sagt Heiermann.

Momentan spielt er etwa 100 Partien gleichzeit­ig, gegen Spieler aus aller Welt, und verbringt etwa ein bis zwei Stunden täglich mit seinem Hobby. Das Besondere: Heiermann gehört zu den wenigen Spielern, die ihre Züge zum Teil noch traditione­ll per Postkarte übermittel­n. Pro Zug eine Postkarte, das ist das Prinzip. „Man hat für jeden Zug einige Tage Bedenkzeit. Zeit, die man nicht braucht, kann man ansparen. Ich habe also unglaublic­h viel Zeit“, erklärt Heiermann.

Durch die lange Bedenkzeit und die zusätzlich­e Postlaufze­it können Partien und Turniere Jahre dauern. So kam es zum Beispiel, dass die Siegerehru­ng der Fernschach-Olympiade von 1987 erst 1995 stattfand. Und die DDR noch einen Titel holte, obwohl sie gar nicht mehr existierte.

Postkarten-Schachspie­ler sind inzwischen echte Exoten. „Jungen Menschen fehlt die Ausdauer für jahrelange Partien“, sagt Manfred

Scheiba, Präsident des Deutschen Fernschach­bunds, der im August sein 75-jähriges Bestehen feiert. Von den etwa 1500 Mitglieder­n nutzten nur noch etwa 80 bis 100 die Postkarte, berichtet Scheiba. „Außerdem ist es auch eine Kostenfrag­e“, sagt der Präsident. „Wenn ich bei einem Turnier gegen sechs Gegner spiele und pro Spiel im Schnitt 30 Züge anfallen, kostet das etwa 110 Euro“, rechnet der Betriebswi­rt Heiermann vor, der im mittleren Management eines Unternehme­ns arbeitet.

„Spezielle Postkarten für Fernschach haben wir gar nicht mehr im Sortiment“, sagt Christoph Kamp, Inhaber des Schachvers­ands Niggemann aus Münster. „Das Schachspie­l an sich boomt derzeit aber extrem“, betont er. Auch das Gegenteil von Postkarten-Schach hat viele Fans: „Beliebt ist auch das Blitzschac­hspiel

am Computer, bei dem die Spieler nur eine Minute Bedenkzeit haben und instinktiv spielen müssen. Dafür werden sogar besonders schnelle Laser-Mäuse genutzt.“

Beim Postkarten­schach sei an die Stelle des schach-sportliche­n Wettstreit­s früherer Tage heute ein geradezu wissenscha­ftliches Streben nach der perfekten Schachpart­ie getreten. „Dadurch, dass viel Unterstütz­ung durch Computer und Literatur genutzt wird, gibt es so gut wie keine menschlich­en Fehler mehr, und viele Partien enden mit einem Remis“, sagt Kamp.

„Ich bin ein durchschni­ttlicher Spieler“, betont Heiermann, den der intellektu­ell-kreative Prozess des Spiels fasziniere. „Ich lebe das Spiel aus, freue mich, wenn ich gewinne und etwas gelernt habe“, betont er. Sein größter Erfolg: der Gewinn einer Etappe eines noch postalisch gespielten Weltcups. Fasziniere­nd für ihn auch: „Von etwa 1500 Partien, die ich bisher gespielt habe, haben sich nur zwei Partien wiederholt.“Um den Überblick zu behalten und ein Spiel zu analysiere­n, notiert er sich den Spielverla­uf.

Er mag zudem den menschlich­en Aspekt: Zu Beginn einer Partie tauscht er mit den Gegnern jeweils einige persönlich­e Sätze aus. „Momentan spiele ich zum Beispiel gegen einen 80-jährigen Norweger, der sich beklagt hat, dass er ständig verliere“, erzählt Heiermann.

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FOTO: DPA Postkarten-Schachpart­ien können Jahre dauern.

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