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Fünf Besuche bei Fürst Igor

- VON WOLFRAM GOERTZ

Gigant der Moderne: Vor 50 Jahren starb der Komponist Igor Strawinsky. Wir stellen seine wichtigste­n und schönsten Werke vor.

Wer war der bedeutends­te Komponist des 20. Jahrhunder­ts? Diese Frage kann nur jemand stellen, der keine Ahnung von dem ungeheuren Delta der Stile hat, in das sich die Musikgesch­ichte nach 1900 ergossen hat. Alban Berg war ein Gigant, Olivier Messiaen auch, György Ligeti erst recht, Karlheinz Stockhause­n wird notorisch unterschät­zt, Sergej Prokofieff muss immer noch entdeckt werden.

Lösen wir die Frage persönlich: Der Liebste war und ist mir Igor Strawinsky. Ein Weltbürger mit Hang zur Kleinlichk­eit, chronisch klamm, Russe durch und durch, dabei französisc­h geadelt und am Ende amerikanis­ch geprägt. Strawinsky liebte es, sich und seine Musik wie ein Chamäleon zu verwandeln, der junge Fürst Igor schöpfte noch aus dem Impression­ismus, dann kamen die kantigen Ballette, dann der Neoklassiz­ismus, am Ende die Zwölftonmu­sik. Immer hat seine Musik einen spezifisch­en „Ton“. Selbst wenn sie virtuos lackiert scheint, schimmert immer dieses glockenhaf­t überwölbte und doch ätzend angeschärf­te Timbre heraus. Mit meiner Liebe zu Strawinsky, der vor 50 Jahren starb und in Venedig begraben liegt, möchte ich anstecken – in fünf Versuchen über seine schönsten Werke, mit Tipps für Aufnahmen.

„Le Sacre du Printemps“Strawinsky­s berühmtest­es Werk, ein Tanzthrill­er. Das Werk läuft rigoros auf das Mädchenopf­er in einem heidnische­n Russland zu, die Geburt des Frühlings aus dem Geist der Grausamkei­t. Jean Cocteau erblickte darin „eine Georgica der Urgeschich­te“. Ein Orchester von 110 Musikern opfert dem Gott des Rhythmus. Losgelöst von der Tradition ist der „Sacre“mitnichten: Die Musikwisse­nschaft hat längst viele russische Volksliede­r in der Partitur identifizi­ert. Die Revolution, die der „Sacre“darstellte, hatte einen durch und durch slawischen Antrieb.

Der „Sacre“von 1913 beginnt denkwürdig – mit einem einsamen Solo des hohen Fagotts, einer lyrischen Linie voller Poesie und Fremdheit; bald schließen sich schwirrend die anderen Bläser an. Sie lassen noch nichts von den Schrecken ahnen, die über die Hörer kommen. Orchester müssen rhythmisch sattelfest sein, wenn sie bei diesen gesplitter­ten Zeitverläu­fen mit ihren wechselnde­n Metren nicht aus der Kurve fliegen wollen. Heutzutage hört man das mit lustvollem Vergnügen.

„Der Feuervogel“

Nüchternhe­it kann man der „Feuervogel“-Musik wahrlich nicht nachsagen. Schon bei der Uraufführu­ng 1910 waren sich die Pariser Kritiker einig, dass sie eine beispielha­fte Kompositio­n gehört hatten. Es handelt sich um erlebnisin­tensive Programmmu­sik, sie illustrier­te ja ein Ballett (was angesichts der konzertant­en Präsenz der später von Strawinsky

entwickelt­en Suiten schon mal erwähnt werden darf). Auch hier zeigt sich Strawinsky­s grandiose Gabe zur Kombinator­ik. Dies war ja Strawinsky­s lebenslang­es Markenzeic­hen gewesen, auch in seiner neoklassiz­istischen und seiner Zwölfton-Phase. Er vernetzte Themen und Stile, baute russisches Urmaterial ein, wusste sich auch als Glied in der Musikgesch­ichte – und war trotzdem so genial, dass er etwas völlig Neues schuf.

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„Oedipus Rex“

Vor 65 Jahren, im Juli 1956, reiste Igor Strawinsky mit seinem Assistente­n Robert Craft nach Delphi und Theben. Lauter Enttäuschu­ngen: Die Ruinen empfanden beide als „verkrüppel­t“, und die Wegkreuzun­g, an welcher Oedipus seinen Vater erschlug, erschien Strawinsky unerwartet breit und bewaldet. Was für ein Glück, dass Strawinsky sein Opern-Oratorium „Oedipus Rex“auf Latein komponiert hatte. Strawinsky, der Neoklassiz­ist, liebte diese krachende, rumpelnde Sprache. Das Lateinisch­e fand er versteiner­t, aber nicht tot. Dieser Aggregatzu­stand animierte ihn zur Dekonstruk­tion: Der ferne Text war „ein rein phonetisch­es Material, das ich als Komponist nach Belieben zerstückel­n kann“. Hier greift der Neoklassiz­ismus weit aus, und in der großen Arie der Iokaste begegnet einem Verdis „Requiem“.

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Sinfonien

Zwischen 1930 und 1945 schrieb Strawinsky drei Sinfonien, die alle unter dem unauffälli­gen Dach einer traditions­reichen Gattung ihr Eigenleben führten. In der „Psalmensin­fonie“entwickelt­e Strawinsky archaische kontrapunk­tische Modelle und zersplitte­rte die Psalmentex­te, als hätte er sie in einem Steinbruch gefunden und nicht in der Heiligen Schrift. Zugleich zeigt sich beim Komponiste­n eine religiöse Haltung, die manchen erstaunen mag. In der Sinfonie in C begann er, harmonisch­e Zentren, an die der Titel gemahnt, polytonal zu verschleie­rn. So klingt das Werk an einigen Stellen, als habe es Joseph Haydn mit 150-jähriger Verspätung komponiert; es ist einer der zentralen Beiträge des Komponiste­n zum Neoklassiz­ismus. Und in der Sinfonie in drei Sätzen arbeitete Strawinsky mit kleinen Intervalle­n als Keimzellen, aus denen er das Stück in ausgefuchs­ter Methodik entwickelt­e. Um später zu verkünden: „Das Werk ist im Aufbau naiv.“Es ist zweifellos sein amerikanis­chstes Stück – und wer im Kopfsatz Jazz-Rhythmen entdeckt, sollte sich nicht wundern: Strawinsky liebte Jazz.

„Petruschka“

Strawinsky war ein brauchbare­r Pianist, aber seine Klavierfas­sung von „Petruschka“(1911) hätte er nie spielen können. Hierzu muss man in der Kunst des Klavier-Karate begabt sein. „Petruschka“von 1911 ist das mittlere der drei „russischen“Ballette, und die Klavierfas­sung läuft unter dem Titel „Trois mouvements de Petrouchka“. Strawinsky berichtet in seinen „Erinnerung­en“: „Bei dieser Arbeit hatte ich die hartnäckig­e Vorstellun­g einer Marionette, die plötzlich Leben gewinnt und durch das teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die Geduld des Orchesters so sehr erschöpft, dass es sie mit Fanfaren bedroht. Daraus entwickelt sich ein schrecklic­her Wirrwarr, der auf seinem Höhepunkt mit dem schmerzlic­h-klagenden Zusammenbr­uch des armen Hampelmann­es endet.“Nur wenige Pianisten spielen „Petruschka“, der letzte Satz, „La semaine grasse“, gilt als Höllenritt.

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NDR-Mitschnitt von 1984 unter Günter Wand.
Unter Claudio Abbado in Rom und unter Daniele Gatti in Paris.
FOTO: DPA/AKG-IMAGES Der russische Komponist Igor Strawinsky lebte von 1882 bis 1971. NDR-Mitschnitt von 1984 unter Günter Wand. Unter Claudio Abbado in Rom und unter Daniele Gatti in Paris.

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