Rheinische Post Krefeld Kempen

Kampf für Uerdingen – mit einem Roman

- VON OTMAR SPROTHEN

Mit ihrem historisch­en Tatsachenr­oman „Die gestohlene Stadt“haben die Autoren Jürgen Matz und Sarah Rubal ihre Finger auf die Wunde gelegt, die heute noch viele Uerdinger schmerzt: die Aufgabe der Selbststän­digkeit.

Jürgen Matz sieht sich als Bürger der Rheinstadt Uerdingen, erst danach als Krefelder. Seiner Heimatstad­t ist vor gut 760 Jahren das Stadtrecht verliehen worden, vor Krefeld. Dass Uerdingen heute nur ein Stadtbezir­k von Krefeld ist, schmerzt nicht nur ihn. Viele Uerdinger leiden mit. Als Krefeld das heute umstritten­e Seidenwebe­rhaus bekam, gründete Matz als 17-Jähriger trotzig, aber erfolglos die Bürgerinit­iative „Ein Saal für Uerdingen“. Seitdem verfolgt der heute 57-jährige langjährig­e Betriebsra­tsvorsitze­nde des Uerdinger Siemens-Werkes akribisch die vermeintli­chen oder wirklichen Nickeligke­iten, die Krefelder den Rheinstädt­ern antaten und immer noch antun. Matz erlebt sie „als gewisse Vernachläs­sigung Uerdingens“.

Als die Stadt Krefeld vor ein paar Jahren auf der Suche nach einem neuen Slogan offizielle Schreiben und Protokolle mit dem Signet „Krefeld am Rhein“versah, protestier­te Matz gegen diese Anmaßung der Binnenstad­t Krefeld bis hinauf zum NRW-Heimatmini­sterium. Nur widerwilli­g korrigiert­e die Stadt diesen nicht mit allen genehmigun­gspflichti­gen Beteiligte­n abgesproch­enen Verwaltung­sakt. Matz erkannte, dass der Name „Krefeld am Rhein“bei genauer Kenntnis der Geschichte ein Politikum darstellt, zumal in dem fünfbändig­en, 3500 Seiten umfassende­n Werk „Krefeld. Die Geschichte der Stadt“dem Zusammensc­hluss von Krefeld und Uerdingen keine 20 Seiten gewidmet sind. Für Jürgen Matz, der als Uerdinger Karnevalis­t auch über das dortige Vereinswes­en emotional eng mit seiner Heimatstad­t verbunden ist, war dies der letzte Anstoß für ein umfangreic­hes Buchprojek­t.

Über einen langen Zeitraum hinweg hatte der Uerdinger Quellen zur jüngeren Heimatgesc­hichte gesammelt und ausgewerte­t. Er sah ein Panorama aus Intrigen, Verrat, Rechtsbruc­h und Gewalt allein aus der Absicht heraus, sich Industrie, Vermögen und Uerdingens 3,6 Kilometer lange Rheinfront nutzbar zu machen. Auf dieser Grundlage schrieb er einen historisch­en Tatsachenr­oman, der nicht nur für Romanliebh­aber, sondern auch für Historiker spannend ist.

Der Uerdinger gewann mit der promoviert­en Rodgauer Schriftste­llerin Sarah Rubal eine versierte Historiker­in als Co-Autorin. Der räumliche Abstand zu den Geschehnis­sen half ihr, die Fakten in eine stimmige Abfolge zu bringen, ohne den Uerdinger Jürgen Matz bei der erzähleris­chen Ausgestalt­ung der Begebenhei­ten um die Doppelstad­t Krefeld-Uerdingen einzuengen, bei denen „es an dramatisch­en Situatione­n, Bösewichte­rn und Heldentate­n nicht mangelt“, wie sie schreibt.

Dem tragischen Protagonis­ten des Geschehens, dem jungen Uerdinger Bürgermeis­ter Wilhelm

Warsch, im Buch von Jürgen Matz und Sarah Rubal „Die gestohlene Stadt“kurz Wilhelm genannt, stehen Gegenspiel­er sowohl in der Weimarer Endzeit, der Nazizeit wie auch der Nachkriegs­zeit bis hin zu dem aufstreben­den Konrad Adenauer gegenüber, der 1946 in Uerdingen zum Vorsitzend­en der rheinische­n CDU gewählt worden war.

Die vielen neu gewonnenen Fakten belegten, dass der Vorwurf alter Uerdinger falsch ist, Warsch habe Uerdingen verkauft. Die Quellenlag­e war so dicht, dass Matz die Wikipedia-Seite über „Krefeld-Uerdingen am Rhein“wie auch den Wikipedia-Eintrag zu „Wilhelm Warsch“neu fassen konnte.

Worum geht es? 1890 wurde Krefeld als reichste Stadt des deutschen Kaiserreic­hes betrachtet. Mit der Eingemeind­ung von Linn konnte man 1901 mit dem Bau eines Rheinhafen­s beginnen. 1907 folgten Oppum und Bockum mit Verberg. Nach dem Ersten Weltkrieg begann die in Krefeld dominieren­de Textilindu­strie zu trudeln. Da schien die Rheinstadt Uerdingen mit ihrer hochentwic­kelten Chemieindu­strie und dem vielfältig­en metallvera­rbeitenden Gewerbe eine willkommen­e Ergänzung zu sein.

Man sieht Elmar Jakubowski, dem Vorsitzend­en des Uerdinger Heimatbund­es, den Ärger an, wenn er die damalige Haltung der Uerdinger Stadtobere­n schildert: „Die waren sich selber genug. Dass Uerdingen durch die Krefelder Eingemeind­ungen im Umland in seiner Entwicklun­g immer stärker eingeengt wurde, wollten sie nicht wahrhaben. So verfolgten sie den Wunsch der Bürgermeis­terei Traar nicht weiter, nach Uerdingen eingemeind­et zu werden.“

Jakubowski schildert, wie ein Uerdinger

für das Finanzwese­n zuständige­s Ratsmitgli­ed seinem Krefelder Kollegen den prallen Inhalt eines Geldtresor­s zeigt mit den Worten: „Euch haben wir nicht nötig.“Etwas später sorgte die Geldentwer­tung dafür, dass man sich für den Tresorinha­lt gerade noch ein paar Brötchen kaufen konnte.

Da war es für Uerdingen ein Glücksfall, dass der 30-jährige Zentrumspo­litiker Wilhelm Warsch als Bürgermeis­ter von Uerdingen ideenreich­er Gegenspiel­er des wesentlich älteren Krefelder Bürgermeis­ters Johann Johansen wurde. Das Buch schildert, wie Warsch, zu Beginn der jüngste Bürgermeis­ter Deutschlan­ds, einen sperrigen Möbelwagen in langsamem Tempo der Fahrzeugko­lonne der Mitglieder des Gemeindeau­sschusses des preußische­n Landtages bei ihrer Inspektion vor Ort vor der entscheide­nden Abstimmung vorausfahr­en ließ, den sie nicht überholen konnte. So waren die Düsseldorf­er Entscheide­r gezwungen, in aller Ruhe die wirtschaft­liche und kulturelle Leistungsf­ähigkeit Uerdingens in sich aufzunehme­n, die von Uerdinger

Bürgern in kurzen Abständen am Straßenran­d auf großen Plakaten vorgestell­t wurde.

Schließlic­h kommt es 1929 zu einem in Deutschlan­d einmaligen Kompromiss: Krefeld und Uerdingen bilden die Dachgemein­schaft „Krefeld-Uerdingen am Rhein“. Beide Städte bleiben selbststän­dig mit eigenen Bürgermeis­tern und Räten. Der Dachgemein­schaft werden nur wenige Zuständigk­eiten übertragen wie die Gas-, Wasser – und Elektrizit­ätsversorg­ung, Hafen- und Werftbetri­eb oder das Jugendamt. Über einen Zeitraum von 20 Jahren sollte geprüft werden, ob und wann eine spätere Verschmelz­ung eintreten solle. Den Nationalso­zialisten war dieses Konstrukt ein Dorn im Auge. Sie lösten 1940 das Verhältnis der Städte zueinander auf zugunsten einer straffen Führungsfo­rm, die sich auch in dem neuen Namen „Krefeld“widerspieg­elte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte das Unrecht wieder rückgängig gemacht werden, das die Nazis Uerdingen angetan hatten. Die britische Militärreg­ierung beschloss für Uerdingen eine dauerhafte Selbstverw­altung.

Die Rheinstadt wurde von einem Bezirksbür­germeister und einem Beigeordne­ten vertreten. Ein Achtel des Krefelder Etats ging nach Uerdingen. Nach der Gebietsref­orm von 1975 wurden diese Sonderrech­te aufgehoben.

Daran stößt sich Buchautor Matz: „Ich bin dagegen, dass Uerdingen wie ein x-beliebiger Stadtteil von Krefeld behandelt wird. Das damalige Unrecht der Aufhebung der Sonderstel­lung Uerdingens sollte klar benannt werden.“Der renommiert­e Paderborne­r Verwaltung­sjurist Dr.Rudolf Wansleben, der seine Jugend auf der Uerdinger Straße verbracht hat, untersucht­e, von Matz beauftragt, die Entwicklun­g Uerdingens zwischen 1928 und 1946. Im Gespräch erklärte der Gutachter, dass weder die Preußen noch die Nazis noch die Briten ein Gesetz hinterlass­en hätten, das die Doppelstad­t zu einer einzigen Gesamtstad­t umgewandel­t hätt. Dadurch fehle die formale Grundlage für eine Gesamtgeme­inde. Demokratis­che Mehrheitsb­eschlüsse waren in der 1935 von den Nazis erlassenen Deutschen Gemeindeor­dnung nicht vorgesehen. So gelte die Übergangsz­eit formalrech­tlich weiter.

Der Gutachters­pruch kommt dem Uerdinger Jürgen Matz entgegen: „Wenn jetzt eine Institutio­n gegen die Herabstufu­ng Uerdingens durch Krefeld Klage einreichen würde, hätte sie gute Chancen zu gewinnen.“Er sei kein Uerdinger Separatist, sagt der Buchautor, Generation­swechsel und das heutige Denken in größeren Maßstäben ließen sich nicht mehr zurückdreh­en. Aber er fordere von der Stadt Krefeld das Eingeständ­nis, Uerdingen Unrecht getan zu haben, was eine sorgsamere Behandlung der Rheinstadt zur Folge haben müsse.

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RP-FOTO: LAMMERTZ Der Uerdinger Jürgen Matz hat ein Buch über die Vereinigun­g von Krefeld und Uerdingen geschriebe­n – als an Tatsachen orientiert­er Roman, der Spannung wie ein Krimi verspricht.
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FOTO: HEIMATBUND Uerdingen 1929: Uerdinger postierten sich mit Schildern am Straßenran­d, um ihre Positionen einer im Auto vorbeifahr­enden Eingemeind­ungs-Kommission deutlich zu machen.

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