Rheinische Post Krefeld Kempen
Vom Herrenhof zum Industriestandort
Mit anderen Worten: Am Anfang des heutigen Willich stand der Hof eines höher stehenden Mannes, vielleicht der Gefolgsmann eines Grafen oder Herzogs, der die umwohnenden unfreien oder leibeigenen Bauern unter seine Herrschaft nahm und ihnen Schutz bot. Aus einer 1756 angefertigten Beschreibung geht hervor, dass dieser Hof am Schnittpunkt dreier Straßen lag: der heutigen Bahnstraße, der Parkstraße und der St. Töniser Straße. Er war also von überall gut zu erreichen. Als Standort gewählt hatte sein Besitzer das Zentrum einer ausgedehnten, fruchtbaren Lösslehmplatte, die reiche Ernten versprach. Vom Fronhof am Gronewald aus haben sich dann die Willicher Bauernhöfe in alle vier Himmelsrichtungen ausgebreitet. Ihre Ackerländerei bildete die Grundlage für das Gebiet der späteren Gemeinde Willich. Mit anderen Worten: Alt-Willich war deckungsgleich mit einer ausgedehnten, fruchtbaren Lehmfläche, die vom 9. bis zum 13. Jahrhundert besiedelt worden ist.
Die ersten Bauernhöfe siedelten sich in der direkten Nachbarschaft des Fronhofs an. Sie bildeten eine zusammenhängende Siedlungszeile, die noch 1424 den Namen „Wilere“trug; darunter ist ein „Weiler“zu verstehen, eine Ansammlung bäuerlicher Gehöfte. In Anlehnung an diesen Fronhof, den man damals „Villa“nannte, erhielt das von ihm aus besiedelte Gebiet schließlich die Bezeichnung „Wylike“. Ein Name, der erstmals 1137 schriftlich überliefert ist. Aus ihm hat sich „Willich“entwickelt.
In vier Jahrhunderten harter Arbeit wurde der Urwald aus Eichen und Buchen zu Ackerflächen gerodet. Als Gegengewicht zu den Strapazen des Alltags verlangte es die Menschen nach einer Stätte der Seelsorge. So entstand 500 Meter südwestlich vom Fronhof ein Kirchlein, zunächst wohl noch als schlichter Holzbau. Zu seinem Patron wurde St. Pankratius bestimmt; ein Heiliger, dessen Verehrung ihren Höhepunkt um 1000 nach Christus erreichte. Auch dieses erste Gotteshaus wurde verkehrsgünstig an einer Straßenkreuzung platziert. Da war einmal eine mittelalterliche Fernstraße, deren Fahrdamm man im sumpfigen Gelände künstlich aufgeschüttet hatte und die deshalb „Hochstraße“hieß. Sie führte von der alten Römersiedlung Novaesium, dem heutigen Neuss, nach Kempen und weiter über Wachtendonk zur Kaiserpfalz in Nimwegen. Von dieser Straße zweigte in der heutigen Ortsmitte Willichs ein Weg nach Südwesten ab, zum Adelssitz Hülsdonk bei Anrath. Hier an der Kreuzung bauten die Willicher ihre erste Kirche.
Dieses erste Gotteshaus, etwa sieben mal zwölf Meter im Quadrat und wohl ohne Turm, stand noch allein auf weiter Flur. Ebenso seine Nachfolgerin, die 1146 errichtete, zweite Pfarrkirche. Erst ab dem 14. Jahrhundert bildet sich um die Kirche ein Kranz schlichter Fachwerkhäuser. Ihre Bewohner sind vor allem Bauernsöhne, denen das väterliche Erbe keinen Lebensunterhalt bietet, weil es dem Erbrecht gemäß vom älteren Bruder bewirtschaftet wird. Im Dorf werden diese jüngeren Geschwister Handwerker oder Gewerbetreibende.
Die Landgebiete rings um das Willicher Dorf gliederten sich in vier bäuerliche Verwaltungsgemeinden – die Honschaften. Von Osten nach Westen gab es die Hardter und die Streithover Honschaft, die Große Honschaft und die Kraphauser Honschaft. Letztere kam 1914 mit den Darder- und Sitterhöfen zu Anrath. Die Honschaften führten in bescheidenem Maße kommunale Selbstverwaltung durch. Ihre Rechnungslegung ist in seltener Reichhaltigkeit überliefert. Danach sorgten die Honschaftsgemeinden für bedürftige Einwohner und trugen zum Bau und zur Reparatur von Kirche und Schule bei. Sie waren für Anlage und Reparatur der Landstraßen zuständig und organisierten die Brandbekämpfung, die zunächst mit Eimerketten, später auch mit Feuerspritzen durchgeführt wurde. Die wurden in Spritzenhäusern aufbewahrt, deren Bau von den Honschaften finanziert wurde.
Jahrhunderte lang ist Willich mit seinen fruchtbaren Ackerböden von der Landwirtschaft geprägt worden. Demgegenüber nahm das Handwerk einen geringen Stellenwert ein. Im Jahre 1858 verfügte Alt-Willich über eine Ackerfläche von 10.830 Morgen. Von seinen 3810 Einwohnern arbeiteten 795 in der Landwirtschaft,
aber nur 260 als Weber. In Anrath, das 3505 Einwohner zählte, gab es nur 1802 Morgen Land und 92 Einwohner, die die Länderei bebauten. Aber Anrath zählte 407 Weber, Willich dagegen nur 260.
Weil in Willich die Landwirtschaft dominierte, kam schon früh das Brennen von Schnaps aus Kartoffeln oder Getreide auf. 1868 gab es hier bereits 61 Schnapsbrennereien. Den entscheidenden Schritt zur Industriegemeinde Willich brachte 1908 an der Anrather Straße die Ansiedlung eines Stahlwerks durch den Unternehmer Reinhold Becker. Bald wurde es zum wichtigsten Arbeitgeber vor Ort, beschäftigte in der Hochkonjunktur des Ersten Weltkriegs 2500 Mann. Aber im April 1932, während der Weltwirtschaftskrise, musste es seine Tore schließen. 500 Willicher standen arbeitslos auf der Straße – bei einer Gesamtbevölkerung von 8200 Einwohnern. In begrenztem Umfang wurde das Werk dann von den Deutschen Edelstahlwerken in Krefeld weiterbetrieben. Am 9. Juli 1948 beschlagnahmte die britische Rheinarmee das Werksgelände, um dort einen Pionierpark zu errichten: ein Magazin für Pontons, mobile Brücken, Baumaterial und dergleichen. 1952 wurde im alten Stahlwerk ein Regiment „Royal Engineers“stationiert. 18 Pächterfirmen, die sich im Aufbauschwung der Nachkriegszeit hier niedergelassen hatten, mussten nun ausziehen.
Aber das ist in Willich bald verziehen, denn aus den Fremden werden Freunde. Mit Feuereifer planieren die „Tommys“alljährlich den Schützenplatz. Voller Engagement unterstützen sie die Private Altenhilfe Willich, kümmern sich um die Waisenkinder im Haus Broich. 1973 erhalten die Engländer zum 21. Jahrestag ihrer Stahlwerks-Stationierung das Recht der Stadtfreiheit („Freedom of the City.“) Der alte englische Brauch erlaubt den Soldaten, mit klingendem Spiel, wehenden Fahnen und aufgepflanztem Bajonett durch die Straßen zu marschieren. Am 31. März 1992 erfolgt dann der letzte Marsch – zurück nach England.
Ein weiterer Schwerpunkt Willicher Industrie wurde das Brauwesen. 1917 schlossen sich die drei Brauereien Hausmann, Schmitz und Dicker zusammen, 1920 fusionierten sie mit der Hannen-Brauerei in Korschenbroich. Daraus entstand eine der bedeutendsten Brauereien im Rheinland mit Sitz in Willich. Die „Bierbraustadt“fand ihr Ende mit der Stilllegung der Produktion im Jahre 1975. Den Ausschlag gaben Querelen zwischen den Besitzerfamilien Dicker, Schmitz und Hausmann.
Zum Ausgleich für den Verlust der Hannen-Brauerei beschließt die Stadt Willich, Industrie anzusiedeln. So entsteht mit Unterstützung des Kreises Viersen und mit Fördermitteln des Landes NRW das Gewerbegebiet Münchheide. Als erstes Unternehmen eröffnete hier im März 1979 die Firma Dageman Zentrallager und Verwaltung.
Fortsetzung folgt