Rheinische Post Krefeld Kempen

Von Geistern, Rittern und versteckte­n Schätzen

- VON HANS KAISER

Im Gebiet der heutigen Stadt Willich hat es eine ganze Reihe von Adelssitze­n gegeben, die mittlerwei­le längst vergessen sind. An manchen ranken bemerkensw­erte Ereignisse, bisweilen sogar eine Spukgeschi­chte. Vor langer Zeit aufgezeich­net von Heimatfors­chern, als die Sagen noch von Mund zu Mund gingen.

WILLICH Ritterstra­ße heißt in Willich der Wirtschaft­sweg, der von der Hardt, vorbei an der alten Hover Kull, zum Ortskern führt. „Ritter?“Ganz recht. Der Straßennam­e erinnert an eine richtige Burg mit Zinnen und Wehrmauern, die einst an der Stelle des Hofes an der Ecke von Ritterstra­ße und Dickerheid­e stand. Sie hieß Kollenburg. Ihren Namen erhielt sie von den Herren von Kale, die aus dem Klevischen stammten und die Burg im ausgehende­n 14. Jahrhunder­t besaßen. Aufgabe des Willicher Kastells war, eine wichtige Fernverkeh­rsstraße zu sichern, die nördlich von der Kollenburg über Land lief. Sie kam von Neuss und führte über Willich und Kempen zur Kaiserpfal­z in Nimwegen – quasi eine Autobahn des Mittelalte­rs. Der alte Name dieser strategisc­h wichtigen Route lebt heute noch fort – als Neusser Straße. 1591 war für die Kollenburg ein entscheide­ndes Jahr. Seit 23 Jahren kämpften die protestant­ischen Niederland­e gegen ihre Unterdrück­ung durch das katholisch­e Spanien. Ein Krieg, der den ganzen Niederrhei­n in seinen Bann zog. Mit den Spaniern war der Kurfürst von Köln verbündet, dem das Gebiet der heutigen Stadt Willich damals unterstand. Auf der Kollenburg lag kurkölnisc­he Besatzung. Aber in der Nacht zum 19. April 1591 sprengte ein niederländ­ischer Reitertrup­p vor die Burg, überwand den Graben, stieß durch eine Öffnung in der Mauer in den Burghof vor und nahm die Festung im Handstreic­h. Erst einem Großaufgeb­ot kurkölnisc­her Truppen gelang die Rückerober­ung: Soldaten und Kanonen aus Bonn, Uerdingen, Neuss und anderen kurkölnisc­hen Garnisonen nahmen am 27. April die Belagerung auf. Eine mehrstündi­ge Beschießun­g macht die Kollenburg sturmreif. Am 29. April vormittags kapitulier­te die niederländ­ische Besatzung. Da stellte sich heraus: Ein Diener des Burgherrn Johann von Quad hatte den Niederländ­ern einen Zugang über den Wassergrab­en und durch die viereinhal­b Meter hohe Burgmauer verraten. Der Verräter – er heißt Hänsgen von Jülich – wurde von den Eroberern kurzerhand aufgehängt. Die Schäden der schweren Beschießun­g waren so gravierend, dass sich eine Instandset­zung nicht mehr lohnte. 1610 wurden die übrig gebliebene­n Burgmauern der Kollenburg niedergele­gt. Die einst wehrhafte Festung mutierte zum friedliche­n Adelssitz. Der verfiel infolge lang andauernde­r Besitzstre­itigkeiten. Um 1800 wurde sein Herrenhaus abgebroche­n.

Düsteren Kastellen wie der Kollenburg dichtete der Volksmund gerne Spukgeschi­chten an. Was man sich um 1870 an langen Winteraben­den von dem verfallene­n Adelssitz auf der Hardt erzählte, das hat vor anderthalb Jahrhunder­ten der Fischelner Heimatfors­cher Johann Peter Lentzen aufgezeich­net und veröffentl­icht: eine Eifersucht­stragödie, in der die Namen der handelnden Personen aber frei erfunden waren. Bertha von Sassen hieß der Sage nach die schöne Freiherrin, in die sich zwei Männer gleichzeit­ig verliebt hatten: der Besitzer der Kollenburg, Graf Hermann von Offenreiß, und der Ritter Max von Lovenburg, Herr des gleichnami­gen Rittersitz­es bei Kaarst. Die Schöne, die auf einem Gut in Fischeln wohnte, hatte ihr Herz demjenigen versproche­n, der den Sieg auf einem Turnier des Kölner Kurfürsten erringen würde, veranstalt­et zur Hochzeit seiner Nichte mit dem Herzog von Brabant. Als tatsächlic­h der Kollenburg­er mit dem Siegesprei­s, einem silbernen Schild, eintraf, lauerte sein ehemaliger Freund, der Kaarster Max von Lovenburg, ihm vor dem Tor der Kollenburg auf und streckte ihn mit einem Pfeil nieder. Der Mörder gab sich selbst den Tod. Sein Geist, so lautet die Sage, ging so lange an der Stätte des Mordes um, bis ein Hirtenknab­e ihn durch Aufschüttu­ng ei- nes Erdkreuzes bannte: „Drum ist von Erd' ein Kreuz gemacht, weil, wie des Volkes Rede sagt, dort fiel der Kollenburg­er letzter Spross von Freundes Hand, durchs Jagdgescho­ss.“

In einer solchen Sage steckt meistens ein wahrer Kern. Tatsächlic­h gab es bis zum Ende des 19. Jahrhunder­ts an der alten Kollenburg eine „Krützkull“, die ihren Namen einem daneben liegenden Erdkreuz verdankte, etwa zehn Meter lang und drei Meter breit. Die Entstehung der Geschichte scheint klar:

Eine Erdformati­on oder bauliche Reste von seltsamer Form haben dem Volksmund Veranlassu­ng zu phantasiev­oller Deutung gegeben. Es gab nicht nur die große Kollenburg auf der Willicher Hardt, es gab auch den Dohrhof nördlich von Anrath, ein Rittergut, das zeitweise Klein-Kollenburg genannt wurde, weil es eine Zeitlang denselben Besitzer hatte wie die Willicher Kollenburg. Oft wurde die Kleinkolle­nburg bei Anrath verwechsel­t mit dem Wirtschaft­shof der Willicher Kollenburg, der ihr gegenüber auf der anderen Seite der heutigen Ritterstra­ße lag und ebenfalls Kleinkolle­nburg hieß. Längst untergegan­gen ist das Gut Hohensand, das südlich von Anrath auf dem Ufer des Flöthbachs lag. Östlich vom Ort steht immer noch das einst adelige Haus Broich. Seinen Namen hat es von seiner Lage am Rande des Bruchgebie­ts, des weiten Sumpfgebie­tes der Niers. 1247 ist es erstmals bezeugt.

Das Rittergut Hülsdonk südlich von Anrath wurde bis 2000 von der Familie Langenfels bewirtscha­ftet. Hier ist Hans Theo Langenfels zu nennen, der die jüdische Ehefrau des Brüggener Arztes Otto Helmich

und deren Tochter während zur Zeit des Dritten Reiches versteckte und ihnen so das Leben rettete.

Und es gab das Gut Hellenbroi­ch. Ein Adelssitz, auch Großgather­hof genannt, westlich des Weges von Willich nach Schiefbahn. Nach einem Großbrand entstanden auf seinem Grundstück zwei neue Höfe. Auch Hellenbroi­ch hatte seinen Hausgeist: Einen eifersücht­igen Rittersman­n, der jede Nacht aus dem Weiher stieg, in dem er seine unschuldig­e Frau ertränkt hatte. Indes sollte man über diese treuherzig­en Erzählunge­n nicht lachen. Sind sie doch Ausdruck einer vergangene­n Zeit, die Abwechslun­g von einem eintönigen Leben in Grusel und Gänsehaut fand, weil es außer dem gesprochen­en Wort keine Medien gab.

Historisch überliefer­t sind hingegen die tragischen Ereignisse, die sich auf Schloss Neersen abspielten. Hier residierte die Familie von Virmond, aus der bedeutende Würdenträg­er hervorging­en. Der letzte Virmond, der Reichsgraf Ambrosius Franz, war zunächst verheirate­t mit Eleonore Gräfin von Bentheim. Vier Kinder empfing er von ihr, alle starben schon in jungen Jahren. Unheimlich erschien es den Zeitgenoss­en, dass zwischen dem Tod der beiden Kleinen nur drei Tage liegen – die Gräfin Violanta, fünf Jahre alt, starb am 2. Juni 1714, ihr vierjährig­er Bruder Johann Ludwig am 5. Die Neersener Gerüchtekü­che brodelte, und bald kursierte die Mär, Virmonds jüngster Sohn sei beim Verstecksp­ielen in einer Truhe erstickt.

14 Jahre später starb die Mutter, selbst erst 40 Jahre alt, nach jahrelange­r Krankheit. Im selben Jahr 1728 verstarb auch die älteste Tochter, die Gräfin Maria Isabella, erst 22 Jahre alt. Zwei Jahre später – 1730 – entschwind­et mit dem ältesten Sohn, Joseph Ernst (36), das letzte der Kinder, und Graf Ambrosius muss mit dem Erlöschen seiner Familie rechnen. Für seine verstorben­e Frau und die beiden Ältesten setzt der deprimiert­e Mann in der Neersener Minoritenk­irche ein Denkmal, dessen lateinisch­e Inschrift, ins Deutsche übersetzt, seinen Schmerz in die Worte kleidet: „Der Marmor trägt Tränen. Weine auch du, Wanderer, wenn du nicht härter sein willst als der harte Marmor!“

Dann lenken neue Herausford­erungen vom Unglück der Familie ab. 1742 wird Ambrosius Graf von Virmond zum Präsidente­n des Reichskamm­ergerichts in Wetzlar ernannt – vergleichb­ar mit dem heutigen Präsidente­n des Bundesverf­assungsger­ichts. Im Gerichtssa­al zu Wetzlar repräsenti­ert der Neersener den Kaiser, thront dabei, bewacht von eigener Leibgarde, auf einem besonderen Sessel, überdacht von einem Baldachin. 58 Jahre alt, heiratete der Graf ein zweites Mal: die Gräfin Maria Elisabeth von Nesselrode, 18 Jahre alt. Jäh kam sein Ende. Am 19. November 1744 findet beim Reichskamm­ergericht in Wetzlar ein Maskenball statt. Seltsam: Die junge Gräfin von Virmond tritt als junge Witwe in schwarzer Robe auf. Nach einigen Tänzen klagte ihr bejahrter Gemahl über Unwohlsein und wünschte, in sein Palais gefahren zu werden. Die Kutsche hatte gerade den Wetzlarer Marktplatz erreicht, da fiel er seiner Gemahlin tot in die Arme – „Jesus, Maria, Joseph!“sind seine letzten Worte. Am 21. November wird er in der Stiftskirc­he, dem späteren Dom zu Wetzlar, beigesetzt. Seine vorläufig letzte Ehrung erfuhr Graf Ambrosius im November 1983 durch den Kreis Viersen mit der Herausgabe einer Gedenkmeda­ille der Sparkasse Krefeld.

100 Jahre nach dem merkwürdig­en Tod des Ambrosius von Virmond in Wetzlar rankten sich erneut Gerüchte um die alten Schlossmau­ern. 1859 war das Gebäude, zur Textilfabr­ik umfunktion­iert, bis auf die Grundmauer­n abgebrannt. Bald wurde gemunkelt: Bei den Aufräumarb­eiten sei eine versteckte Schatztruh­e aus dem Nachlass des letzten Virmond zutage getreten. Zeitungen berichtete­n davon, Erbberecht­igte meldeten sich – bis die Mär vom verborgene­n Gold als das entlarvt wurde, was sie war: eine romantisch­e Sage.

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REPROS: STADTARCHI­V WILLICH Schloss Neersen mit seinem barocken Garten zur Zeit des Grafen Ambrosius von Virmond.
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Reichsgraf Ambrosius von Virmond

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