Rheinische Post Krefeld Kempen
Von Geistern, Rittern und versteckten Schätzen
Im Gebiet der heutigen Stadt Willich hat es eine ganze Reihe von Adelssitzen gegeben, die mittlerweile längst vergessen sind. An manchen ranken bemerkenswerte Ereignisse, bisweilen sogar eine Spukgeschichte. Vor langer Zeit aufgezeichnet von Heimatforschern, als die Sagen noch von Mund zu Mund gingen.
WILLICH Ritterstraße heißt in Willich der Wirtschaftsweg, der von der Hardt, vorbei an der alten Hover Kull, zum Ortskern führt. „Ritter?“Ganz recht. Der Straßenname erinnert an eine richtige Burg mit Zinnen und Wehrmauern, die einst an der Stelle des Hofes an der Ecke von Ritterstraße und Dickerheide stand. Sie hieß Kollenburg. Ihren Namen erhielt sie von den Herren von Kale, die aus dem Klevischen stammten und die Burg im ausgehenden 14. Jahrhundert besaßen. Aufgabe des Willicher Kastells war, eine wichtige Fernverkehrsstraße zu sichern, die nördlich von der Kollenburg über Land lief. Sie kam von Neuss und führte über Willich und Kempen zur Kaiserpfalz in Nimwegen – quasi eine Autobahn des Mittelalters. Der alte Name dieser strategisch wichtigen Route lebt heute noch fort – als Neusser Straße. 1591 war für die Kollenburg ein entscheidendes Jahr. Seit 23 Jahren kämpften die protestantischen Niederlande gegen ihre Unterdrückung durch das katholische Spanien. Ein Krieg, der den ganzen Niederrhein in seinen Bann zog. Mit den Spaniern war der Kurfürst von Köln verbündet, dem das Gebiet der heutigen Stadt Willich damals unterstand. Auf der Kollenburg lag kurkölnische Besatzung. Aber in der Nacht zum 19. April 1591 sprengte ein niederländischer Reitertrupp vor die Burg, überwand den Graben, stieß durch eine Öffnung in der Mauer in den Burghof vor und nahm die Festung im Handstreich. Erst einem Großaufgebot kurkölnischer Truppen gelang die Rückeroberung: Soldaten und Kanonen aus Bonn, Uerdingen, Neuss und anderen kurkölnischen Garnisonen nahmen am 27. April die Belagerung auf. Eine mehrstündige Beschießung macht die Kollenburg sturmreif. Am 29. April vormittags kapitulierte die niederländische Besatzung. Da stellte sich heraus: Ein Diener des Burgherrn Johann von Quad hatte den Niederländern einen Zugang über den Wassergraben und durch die viereinhalb Meter hohe Burgmauer verraten. Der Verräter – er heißt Hänsgen von Jülich – wurde von den Eroberern kurzerhand aufgehängt. Die Schäden der schweren Beschießung waren so gravierend, dass sich eine Instandsetzung nicht mehr lohnte. 1610 wurden die übrig gebliebenen Burgmauern der Kollenburg niedergelegt. Die einst wehrhafte Festung mutierte zum friedlichen Adelssitz. Der verfiel infolge lang andauernder Besitzstreitigkeiten. Um 1800 wurde sein Herrenhaus abgebrochen.
Düsteren Kastellen wie der Kollenburg dichtete der Volksmund gerne Spukgeschichten an. Was man sich um 1870 an langen Winterabenden von dem verfallenen Adelssitz auf der Hardt erzählte, das hat vor anderthalb Jahrhunderten der Fischelner Heimatforscher Johann Peter Lentzen aufgezeichnet und veröffentlicht: eine Eifersuchtstragödie, in der die Namen der handelnden Personen aber frei erfunden waren. Bertha von Sassen hieß der Sage nach die schöne Freiherrin, in die sich zwei Männer gleichzeitig verliebt hatten: der Besitzer der Kollenburg, Graf Hermann von Offenreiß, und der Ritter Max von Lovenburg, Herr des gleichnamigen Rittersitzes bei Kaarst. Die Schöne, die auf einem Gut in Fischeln wohnte, hatte ihr Herz demjenigen versprochen, der den Sieg auf einem Turnier des Kölner Kurfürsten erringen würde, veranstaltet zur Hochzeit seiner Nichte mit dem Herzog von Brabant. Als tatsächlich der Kollenburger mit dem Siegespreis, einem silbernen Schild, eintraf, lauerte sein ehemaliger Freund, der Kaarster Max von Lovenburg, ihm vor dem Tor der Kollenburg auf und streckte ihn mit einem Pfeil nieder. Der Mörder gab sich selbst den Tod. Sein Geist, so lautet die Sage, ging so lange an der Stätte des Mordes um, bis ein Hirtenknabe ihn durch Aufschüttung ei- nes Erdkreuzes bannte: „Drum ist von Erd' ein Kreuz gemacht, weil, wie des Volkes Rede sagt, dort fiel der Kollenburger letzter Spross von Freundes Hand, durchs Jagdgeschoss.“
In einer solchen Sage steckt meistens ein wahrer Kern. Tatsächlich gab es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts an der alten Kollenburg eine „Krützkull“, die ihren Namen einem daneben liegenden Erdkreuz verdankte, etwa zehn Meter lang und drei Meter breit. Die Entstehung der Geschichte scheint klar:
Eine Erdformation oder bauliche Reste von seltsamer Form haben dem Volksmund Veranlassung zu phantasievoller Deutung gegeben. Es gab nicht nur die große Kollenburg auf der Willicher Hardt, es gab auch den Dohrhof nördlich von Anrath, ein Rittergut, das zeitweise Klein-Kollenburg genannt wurde, weil es eine Zeitlang denselben Besitzer hatte wie die Willicher Kollenburg. Oft wurde die Kleinkollenburg bei Anrath verwechselt mit dem Wirtschaftshof der Willicher Kollenburg, der ihr gegenüber auf der anderen Seite der heutigen Ritterstraße lag und ebenfalls Kleinkollenburg hieß. Längst untergegangen ist das Gut Hohensand, das südlich von Anrath auf dem Ufer des Flöthbachs lag. Östlich vom Ort steht immer noch das einst adelige Haus Broich. Seinen Namen hat es von seiner Lage am Rande des Bruchgebiets, des weiten Sumpfgebietes der Niers. 1247 ist es erstmals bezeugt.
Das Rittergut Hülsdonk südlich von Anrath wurde bis 2000 von der Familie Langenfels bewirtschaftet. Hier ist Hans Theo Langenfels zu nennen, der die jüdische Ehefrau des Brüggener Arztes Otto Helmich
und deren Tochter während zur Zeit des Dritten Reiches versteckte und ihnen so das Leben rettete.
Und es gab das Gut Hellenbroich. Ein Adelssitz, auch Großgatherhof genannt, westlich des Weges von Willich nach Schiefbahn. Nach einem Großbrand entstanden auf seinem Grundstück zwei neue Höfe. Auch Hellenbroich hatte seinen Hausgeist: Einen eifersüchtigen Rittersmann, der jede Nacht aus dem Weiher stieg, in dem er seine unschuldige Frau ertränkt hatte. Indes sollte man über diese treuherzigen Erzählungen nicht lachen. Sind sie doch Ausdruck einer vergangenen Zeit, die Abwechslung von einem eintönigen Leben in Grusel und Gänsehaut fand, weil es außer dem gesprochenen Wort keine Medien gab.
Historisch überliefert sind hingegen die tragischen Ereignisse, die sich auf Schloss Neersen abspielten. Hier residierte die Familie von Virmond, aus der bedeutende Würdenträger hervorgingen. Der letzte Virmond, der Reichsgraf Ambrosius Franz, war zunächst verheiratet mit Eleonore Gräfin von Bentheim. Vier Kinder empfing er von ihr, alle starben schon in jungen Jahren. Unheimlich erschien es den Zeitgenossen, dass zwischen dem Tod der beiden Kleinen nur drei Tage liegen – die Gräfin Violanta, fünf Jahre alt, starb am 2. Juni 1714, ihr vierjähriger Bruder Johann Ludwig am 5. Die Neersener Gerüchteküche brodelte, und bald kursierte die Mär, Virmonds jüngster Sohn sei beim Versteckspielen in einer Truhe erstickt.
14 Jahre später starb die Mutter, selbst erst 40 Jahre alt, nach jahrelanger Krankheit. Im selben Jahr 1728 verstarb auch die älteste Tochter, die Gräfin Maria Isabella, erst 22 Jahre alt. Zwei Jahre später – 1730 – entschwindet mit dem ältesten Sohn, Joseph Ernst (36), das letzte der Kinder, und Graf Ambrosius muss mit dem Erlöschen seiner Familie rechnen. Für seine verstorbene Frau und die beiden Ältesten setzt der deprimierte Mann in der Neersener Minoritenkirche ein Denkmal, dessen lateinische Inschrift, ins Deutsche übersetzt, seinen Schmerz in die Worte kleidet: „Der Marmor trägt Tränen. Weine auch du, Wanderer, wenn du nicht härter sein willst als der harte Marmor!“
Dann lenken neue Herausforderungen vom Unglück der Familie ab. 1742 wird Ambrosius Graf von Virmond zum Präsidenten des Reichskammergerichts in Wetzlar ernannt – vergleichbar mit dem heutigen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Im Gerichtssaal zu Wetzlar repräsentiert der Neersener den Kaiser, thront dabei, bewacht von eigener Leibgarde, auf einem besonderen Sessel, überdacht von einem Baldachin. 58 Jahre alt, heiratete der Graf ein zweites Mal: die Gräfin Maria Elisabeth von Nesselrode, 18 Jahre alt. Jäh kam sein Ende. Am 19. November 1744 findet beim Reichskammergericht in Wetzlar ein Maskenball statt. Seltsam: Die junge Gräfin von Virmond tritt als junge Witwe in schwarzer Robe auf. Nach einigen Tänzen klagte ihr bejahrter Gemahl über Unwohlsein und wünschte, in sein Palais gefahren zu werden. Die Kutsche hatte gerade den Wetzlarer Marktplatz erreicht, da fiel er seiner Gemahlin tot in die Arme – „Jesus, Maria, Joseph!“sind seine letzten Worte. Am 21. November wird er in der Stiftskirche, dem späteren Dom zu Wetzlar, beigesetzt. Seine vorläufig letzte Ehrung erfuhr Graf Ambrosius im November 1983 durch den Kreis Viersen mit der Herausgabe einer Gedenkmedaille der Sparkasse Krefeld.
100 Jahre nach dem merkwürdigen Tod des Ambrosius von Virmond in Wetzlar rankten sich erneut Gerüchte um die alten Schlossmauern. 1859 war das Gebäude, zur Textilfabrik umfunktioniert, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Bald wurde gemunkelt: Bei den Aufräumarbeiten sei eine versteckte Schatztruhe aus dem Nachlass des letzten Virmond zutage getreten. Zeitungen berichteten davon, Erbberechtigte meldeten sich – bis die Mär vom verborgenen Gold als das entlarvt wurde, was sie war: eine romantische Sage.