Rheinische Post Krefeld Kempen
„Die Bundestagswahl ist eine Kanzlerwahl“
Der Spitzenkandidat der SPD verspürt in den Umfragen gerade Rückenwind – und will als Mann der Mitte gesehen werden.
Herr Scholz, in Afghanistan spielt sich ein Drama ab. Wie konnte es zu einer solch falschen Lageeinschätzung kommen?
SCHOLZ Wie es aussieht, hat die komplette internationale Staatenwelt die Lage nicht richtig beurteilt. Auch die US-Nachrichtendienste sind wohl bis zuletzt nicht davon ausgegangen, dass die Taliban die Macht in Kabul in solch kurzer Zeit übernehmen würden. Noch am Freitag vergangener Woche glaubten viele, die Hauptstadt werde noch mindestens 30 Tage frei bleiben, es waren dann nicht mal 30 Stunden.
Außenminister Heiko Maas, ihr Parteikollege, steht wegen bürokratischer Hürden bei den Visa unter Druck. Genießt er Ihr Vertrauen? SCHOLZ Der Außenminister ist für diesen Vorhalt die falsche Adresse. Aber ich will nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Jetzt müssen alle ihre Arbeit tun und unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihrer schwierigen Evakuierungsmission unterstützen.
Wie kann man den Menschen, die vor den Taliban flüchten, helfen? SCHOLZ Die Bundeswehr hat eine Luftbrücke etabliert, mit der jetzt in mehreren Flügen täglich Deutsche, europäische Verbündete und auch afghanische Bürgerinnen und Bürger aus Kabul ausgeflogen werden. Es geht unter anderem um Ortskräfte der Bundeswehr, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und politisch bedrohte Afghanen, etwa Frauen, die sich für Gleichstellung eingesetzt haben. Das ist ein wichtiger Schritt – neben den USA sind auch wir Deutsche am Flughafen präsent. In naher Zukunft werden sicher auch noch mehr Afghanen ins Exil gehen und vor allem in den Nachbarländern Afghanistans Schutz suchen. Wir müssen dort Entwicklungs- und Integrationsperspektiven ermöglichen. Pakistan, Iran, Irak und auch die Türkei brauchen dafür die Unterstützung der Weltgemeinschaft.
Dies sind überwiegend keine Staaten, die Deutschland unterstützen will.
SCHOLZ Wir erleben gerade eine außerordentliche Krise, und der Schutz der Flüchtlinge hat Priorität. In den internationalen Beziehungen kann man sich seine Gegenüber nicht aussuchen, viele teilen oft nicht unsere Vorstellungen und Werte. Aber wenn sie den Flüchtlingen Schutz bieten, ist das Anlass genug zu helfen.
Es gibt die Forderung nach einem Bundesaufnahmeprogramm. Wie viele Menschen kann Deutschland aufnehmen?
SCHOLZ Jetzt geht es um akute Hilfe in der Not. Und die Genannten, die Ortskräfte von Medien und Hilfsorganisationen etwa, die auf unseren Listen stehenden Personen, nehmen wir später unbürokratisch auch auf, wenn sie nicht jetzt am Flughafen in Kabul in ein Flugzeug steigen.
Was bedeutet das Desaster für andere Auslandseinsätze der Bundeswehr?
SCHOLZ Vergleiche mit anderen Auslandseinsätzen der Bundeswehr bieten sich aus meiner Sicht nicht an.
Der Afghanistan-Einsatz war besonders, schon mit Blick auf seine Länge und seine Dimension – umso bitterer ist die aktuelle Entwicklung. Wir müssen das Für und Wider jedes Einsatzes unserer Streitkräfte im Ausland immer gut und umfassend abwägen.
In der Innenpolitik hat das Kabinett gerade den Wiederaufbaufonds beschlossen. Kann es sich Deutschland leisten, immer mit „Wumms“gegenzusteuern?
SCHOLZ Die Folgen dieser Naturkatastrophe sind sehr groß. Ich habe mir das vor Ort angeschaut, habe das Entsetzen erlebt über die vielen Toten, über die Verletzten und die Zerstörungen in Rheinland-Pfalz, in Nordrhein-Westfalen und auch in Bayern. Bis heute gibt es Vermisste. Die Trauer über den Verlust der Eltern, der Geschwister, der Kinder können wir mit keinem Geld der Welt lindern. Wir können aber dabei helfen, Häuser, Betriebe und Infrastruktur wiederaufzubauen. Das ist eine nationale Katastrophe. Da ist es gut, dass der Bund und auch die Länder, die davon nicht unmittelbar betroffen sind, gemeinsam unterstützen. Das ist ein Beweis von Solidarität, der unserem Land guttut.
Menschen überlegen bereits, den betroffenen Regionen den Rücken zu kehren…
SCHOLZ Mit den 30 Milliarden Euro an Hilfen verbinden wir die klare Botschaft: Wir setzen auf den Wiederaufbau. Vielleicht kann nicht jedes Haus an gleicher Stelle aufgebaut werden, aber hoffentlich im selben Ort. Die Bürgerinnen und Bürger sollten in ihrer Heimat bleiben können. Deshalb werden wir auch mehr Geld in den Schutz vor solchen Katastrophen investieren.
Braucht es eine verpflichtende Elementarschutzversicherung?
SCHOLZ Die Diskussion darüber, ob es eine solche Versicherungspflicht geben soll, hat zwischen den 16 Ländern bereits begonnen. Verbindlich kann man so etwas aber nur festlegen, wenn alle Länder einverstanden sind. Fest steht, dass wir es häufiger mit Extremwetterlagen zu tun haben werden – davor ist keine Region geschützt, und darauf müssen wir uns gut vorbereiten.
Wird es Schulen nur noch für „2G“-Schüler geben?
SCHOLZ Das schließe ich aus. Es gibt die Schulpflicht – und das Recht auf Bildung. Nach den langen Schulschließungen, nach Wechsel- und Fernunterricht, bin ich ein klarer Verfechter von Präsenzunterricht an Schulen. Die Schulen müssen offen bleiben. Mit den Impfungen, mit dem Schutz durch Masken in Innenräumen, aber auch mit den regelmäßigen Tests an den Schulen können wir das Infektionsgeschehen kontrollieren. Aus meiner Sicht darf es keinen neuen Lockdown geben. Der wäre angesichts der Impfquote schwer begründbar. Wer sich schützen will, kann sich impfen lassen. Wer auf diesen Schutz verzichtet, kann nicht erwarten, dass die gesamte Gesellschaft noch einmal solch einschneidende Maßnahmen mitträgt.
Ihre Umfragewerte sind gut. Sie könnten als Sieger aus der Wahl hervorgehen, dennoch in der Opposition landen...
SCHOLZ Die Bundestagswahl ist eine Kanzlerwahl. Wer sicherstellen möchte, dass ich Kanzler werde, wählt mit Zweitstimme am besten SPD. Ich setze auf ein Votum der Bürgerinnen und Bürger, das mir erlaubt, eine Regierung zu bilden.
Manche Wähler haben Befürchtungen, dass sie Scholz wählen und mit einem Linksbündnis aufwachen.
SCHOLZ Wer SPD wählt, bekommt Scholz als Kanzler. Die SPD zeigt sich entschlossen und geschlossen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Wir haben ein sehr zuversichtliches Programm beschlossen. Mir geht es um mehr Respekt für die arbeitende Mitte, für die Geringverdiener, für die, die das Land am Laufen halten. Wir haben einen klaren Plan, wie wir die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Landes mit ökologischer Industriepolitik sichern können, auch im Wettstreit mit den Supermächten China und USA.
Und SPD-Chefin Saskia Esken wird Ministerin?
SCHOLZ Es gehört sich nicht, dass Politiker schon Wochen vor dem Wahlabend so tun, als könne man die Posten im Vorhinein großzügig verteilen. An dem Spiel beteiligen wir uns nicht. Und jeder weiß, dass in der Führung von Fraktion und Partei viele gute Leute sind. Wir werben gemeinsam um die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger.