Rheinische Post Krefeld Kempen
Einige Gewinner, viele Verlierer
Der Sieg islamistischer Hardliner am Hindukusch hat bereits jetzt absehbare globale Folgen. Machtverhältnisse verschieben sich, die Welt wird noch instabiler. Einigen Staaten nützt dies, Schaden nimmt vor allem das afghanische Volk. Und es gibt noch einige Fragezeichen.
Der Siegeszug der Taliban in Afghanistan hat auch geopolitische Auswirkungen: Es gibt Gewinner, aber ungleich mehr Verlierer. Und manche Auswirkungen auf Staaten und Organisationen sind noch unklar. Eine Übersicht.
DIE GEWINNER
Die Taliban Die Islamisten haben westliche Regierungen an den Verhandlungstisch gebracht, auch darum, weil sie Tausende Menschen als Faustpfand missbrauchen können. Ihrer mörderischen Ideologie zum Trotz sind sie damit international salonfähig geworden. Sie stehen allerdings vor der Herausforderung, ihre Anhänger unter Kontrolle zu behalten, wenn sie nach außen Zugeständnisse machen. Außerdem benötigen sie Geld. Neben dem lukrativen Opiumund Heroinhandel haben die Taliban ein neues Geschäftsfeld erschlossen: den Waffenhandel. Denn von der afghanischen Armee haben sie Millionen Rüstungsgüter vom Schnellfeuergewehr bis zum Hubschrauber erbeutet, die sie bereits jetzt verkaufen, angeblich vor allem über Pakistan.
Der islamische Fundamentalismus Er ist mitsamt seiner „Gotteskrieger im Kampf gegen die Ungläubigen“der große Sieger dieses Umsturzes. Der Erfolg in Afghanistan verdrängt Rückschläge – wie zuletzt den des Islamischen Staates in Syrien und im Irak – und ist Ansporn für Hundertausende meist junge Männer, in den Dschihad, den „Heiligen Krieg“, zu ziehen. Wird Afghanistan wieder zum Ausbildungslager für den Terrorismus? Gelangen afghanische Waffen, vor allem gefährliche Drohnen aus US-Beständen, in die Hände weltweit agierender Attentäter?
Das Nachbarland Pakistan Es hat die Taliban seit ihrer Gründung massiv unterstützt, unter anderem durch sichere Rückzugsgebiete in der Grenzregion und den unerschöpflichen „Nachschub“an Kämpfern durch mehr als 12.000 Koranschulen, die junge Männer zum „Heiligen Krieg“motiviert haben. Das islamische Pakistan
befürchtete die Umklammerung durch ein westlich orientiertes Afghanistan und den Erzfeind Indien im Osten, eine Bedrohung, die jetzt gebannt ist. Offiziell feiert Pakistan die Befreiung des Nachbarlandes „aus der Sklaverei“, so Premierminister Imran Khan. Es wird aber Wege finden müssen, seinen Einfluss auf die Taliban zu behalten.
Die Volksrepublik China Das Land grenzt im Nordosten an Afghanistan und arbeitet traditionell eng mit Pakistan zusammen. In China hat man erfreut registriert, dass sich der große Konkurrent USA erneut als Papiertiger gezeigt hat. Peking agiert außenund wirtschaftspolitisch unauffällig, aber strategisch wirkungsvoll. Die immensen Bodenschätze Afghanistans sind nun in Griffweite – wie Eisen, Lithium und Seltene Erden. Es gibt auch Pläne, Afghanistan in das ehrgeizige Seidenstraßen-Projekt einzubinden. Skrupel, mit den Taliban zu kooperieren, dürfte Peking nicht haben, wohl aber mit Blick auf die unterdrückte Minderheit der Uiguren im eigenen Land die Sorge, dass nun islamistischer Terror importiert werden könnte.
Der Iran Der Staat, der eine noch größere Einkreisungsangst als Pakistan hat, begrüßt den
Abzug westlicher Truppen, schließlich sind die USA Feind Nummer eins. Doch die schiitisch dominierte Islamische Republik Iran und das sunnitische Afghanistan trennen tiefe religiöse
Gräben, die Beziehungen zu den Taliban gelten als angespannt. Belastet ist der Iran auch durch ungezählte Flüchtlinge aus Afghanistan. Er dürfte deshalb weiterhin misstrauisch nach Kabul blicken.
Saudi-Arabien Das Land gehört über Jahrzehnte zu den finanzstarken Unterstützern radikaler Kräfte in Afghanistan. Es hatte als eines von weltweit nur drei Ländern das erste Islamische Emirat der Taliban anerkannt. Saudischen Hardlinern geht es um die Ausbreitung ihres Glaubens auch mit Gewalt. Traditionell spielt das Land ein Doppelspiel: Der wichtigste Verbündete der Vereinigten Staaten in der Golfregion unterstützt zugleich heimlich Terroristen.
DIE VERLIERER
Das afghanische Volk Vor allem Frauen und Kinder werden unter den Taliban massiv leiden. Die erste Schreckensherrschaft in den Jahren von 1996 bis 2001 lässt ahnen, wie dramatisch das Rad mit Blick auf die Menschenrechte und Bildung zurückgedreht werden wird. In dem Jahrzehnt der US- und Nato-Intervention stieg die Bevölkerungszahl Afghanistans um ein Drittel, nicht zuletzt deswegen, weil viele Kriegsflüchtlinge heimkehrten. Das droht sich radikal umzukehren.
Die moderaten Kräfte des Islam Jene Kräfte, die auf Versöhnung der Religionen, Menschlichkeit und Toleranz setzen, verlieren an Attraktivität, zeigt sich der militante Islam doch aktuell als durchsetzungsstärker. Das hat auch Auswirkungen auf Christen in aller Welt, die nun verstärkt zur Zielscheibe von Angriffen und Unterdrückung werden.
Der Westen Die gesamte westliche Welt ist durch den Umsturz beschädigt. Die USA, die zwischen dem Anspruch als Supermacht und dem Rückzug als „Weltpolizist“schwanken, haben einen besonders schweren Rückschlag in ihrer Glaubwürdigkeit erlitten. Europa droht eine neue Flüchtlingskrise und möglicherweise eine Terrorwelle. Deutschland, das in Afghanistan besonders anerkannt war, hat sich als verlässlicher Partner ebenfalls diskreditiert. Das wird Auswirkungen auf andere Auslandseinsätze der Bundeswehr haben: Ortskräfte zum Beispiel in Mali wissen nun, dass sie Deutschland
nicht mehr vertrauen können. Hilfsorganisationen müssen ebenfalls Einschränkungen befürchten: Helfen dürfen sie wohl nur noch in Bereichen, die in das Weltbild der neuen Machthaber passen.
Instabile Länder in Afrika und Asien Sie haben jetzt gelernt, dass sie sich auf die Hilfe demokratischer Staaten nicht verlassen können. Diese Krisenländer werden sich neu orientieren, im Zweifel Richtung China oder Russland. Aufseiten der Taliban haben islamistische Eiferer aus vielen anderen Regionen gekämpft, so aus Tschetschenien, vom Balkan und sogar vereinzelt aus Deutschland. Sie können sich auf neue Schlachtfelder konzentrieren. Ihr Schwerpunkt: vermutlich Afrika.
Indien Der Rivale Pakistans hatte gute Beziehungen zu der geflohenen Regierung in Kabul. Indien sieht nun nicht nur seinen Einfluss in der Region beschnitten, sondern auch seine Investitionen gefährdet: umgerechnet rund drei Milliarden Euro sollen allein in neue Schulen, Straßen und Staudämme geflossen sein.
Die westliche Wirtschaft
Sie hat allgemein massiv vom Aufbau in Afghanistan profitiert, Banken, Bauunternehmen, Rüstungskonzerne und die Logistikbranche konnten dort Milliarden verdienen, ein Geschäft, das nun abrupt weggebrochen ist.
DIE FRAGEZEICHEN
Russland Dort sieht man die Vorgänge mutmaßlich gespalten: Einerseits herrscht im Kreml Schadenfreude darüber, dass die USA versagt haben. Zugleich ist die sowjetische Niederlage in Afghanistan nicht vergessen. Und islamischer Terror könnte über die Ex-Sowjetrepubliken auch wieder Russland erschüttern.
Die Nachbarländer Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan haben ebenfalls große Sicherheitsbedenken und fürchten eine massive Flüchtlingswelle, die bereits begonnen hat. Auch wenn sie, islamisch orientiert, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Taliban mutmaßlich nicht abgeneigt sind, stehen zunächst die Gefahren im Fokus.