Rheinische Post Krefeld Kempen

Einige Gewinner, viele Verlierer

- VON HELMUT MICHELIS

Der Sieg islamistis­cher Hardliner am Hindukusch hat bereits jetzt absehbare globale Folgen. Machtverhä­ltnisse verschiebe­n sich, die Welt wird noch instabiler. Einigen Staaten nützt dies, Schaden nimmt vor allem das afghanisch­e Volk. Und es gibt noch einige Fragezeich­en.

Der Siegeszug der Taliban in Afghanista­n hat auch geopolitis­che Auswirkung­en: Es gibt Gewinner, aber ungleich mehr Verlierer. Und manche Auswirkung­en auf Staaten und Organisati­onen sind noch unklar. Eine Übersicht.

DIE GEWINNER

Die Taliban Die Islamisten haben westliche Regierunge­n an den Verhandlun­gstisch gebracht, auch darum, weil sie Tausende Menschen als Faustpfand missbrauch­en können. Ihrer mörderisch­en Ideologie zum Trotz sind sie damit internatio­nal salonfähig geworden. Sie stehen allerdings vor der Herausford­erung, ihre Anhänger unter Kontrolle zu behalten, wenn sie nach außen Zugeständn­isse machen. Außerdem benötigen sie Geld. Neben dem lukrativen Opiumund Heroinhand­el haben die Taliban ein neues Geschäftsf­eld erschlosse­n: den Waffenhand­el. Denn von der afghanisch­en Armee haben sie Millionen Rüstungsgü­ter vom Schnellfeu­ergewehr bis zum Hubschraub­er erbeutet, die sie bereits jetzt verkaufen, angeblich vor allem über Pakistan.

Der islamische Fundamenta­lismus Er ist mitsamt seiner „Gotteskrie­ger im Kampf gegen die Ungläubige­n“der große Sieger dieses Umsturzes. Der Erfolg in Afghanista­n verdrängt Rückschläg­e – wie zuletzt den des Islamische­n Staates in Syrien und im Irak – und ist Ansporn für Hundertaus­ende meist junge Männer, in den Dschihad, den „Heiligen Krieg“, zu ziehen. Wird Afghanista­n wieder zum Ausbildung­slager für den Terrorismu­s? Gelangen afghanisch­e Waffen, vor allem gefährlich­e Drohnen aus US-Beständen, in die Hände weltweit agierender Attentäter?

Das Nachbarlan­d Pakistan Es hat die Taliban seit ihrer Gründung massiv unterstütz­t, unter anderem durch sichere Rückzugsge­biete in der Grenzregio­n und den unerschöpf­lichen „Nachschub“an Kämpfern durch mehr als 12.000 Koranschul­en, die junge Männer zum „Heiligen Krieg“motiviert haben. Das islamische Pakistan

befürchtet­e die Umklammeru­ng durch ein westlich orientiert­es Afghanista­n und den Erzfeind Indien im Osten, eine Bedrohung, die jetzt gebannt ist. Offiziell feiert Pakistan die Befreiung des Nachbarlan­des „aus der Sklaverei“, so Premiermin­ister Imran Khan. Es wird aber Wege finden müssen, seinen Einfluss auf die Taliban zu behalten.

Die Volksrepub­lik China Das Land grenzt im Nordosten an Afghanista­n und arbeitet traditione­ll eng mit Pakistan zusammen. In China hat man erfreut registrier­t, dass sich der große Konkurrent USA erneut als Papiertige­r gezeigt hat. Peking agiert außenund wirtschaft­spolitisch unauffälli­g, aber strategisc­h wirkungsvo­ll. Die immensen Bodenschät­ze Afghanista­ns sind nun in Griffweite – wie Eisen, Lithium und Seltene Erden. Es gibt auch Pläne, Afghanista­n in das ehrgeizige Seidenstra­ßen-Projekt einzubinde­n. Skrupel, mit den Taliban zu kooperiere­n, dürfte Peking nicht haben, wohl aber mit Blick auf die unterdrück­te Minderheit der Uiguren im eigenen Land die Sorge, dass nun islamistis­cher Terror importiert werden könnte.

Der Iran Der Staat, der eine noch größere Einkreisun­gsangst als Pakistan hat, begrüßt den

Abzug westlicher Truppen, schließlic­h sind die USA Feind Nummer eins. Doch die schiitisch dominierte Islamische Republik Iran und das sunnitisch­e Afghanista­n trennen tiefe religiöse

Gräben, die Beziehunge­n zu den Taliban gelten als angespannt. Belastet ist der Iran auch durch ungezählte Flüchtling­e aus Afghanista­n. Er dürfte deshalb weiterhin misstrauis­ch nach Kabul blicken.

Saudi-Arabien Das Land gehört über Jahrzehnte zu den finanzstar­ken Unterstütz­ern radikaler Kräfte in Afghanista­n. Es hatte als eines von weltweit nur drei Ländern das erste Islamische Emirat der Taliban anerkannt. Saudischen Hardlinern geht es um die Ausbreitun­g ihres Glaubens auch mit Gewalt. Traditione­ll spielt das Land ein Doppelspie­l: Der wichtigste Verbündete der Vereinigte­n Staaten in der Golfregion unterstütz­t zugleich heimlich Terroriste­n.

DIE VERLIERER

Das afghanisch­e Volk Vor allem Frauen und Kinder werden unter den Taliban massiv leiden. Die erste Schreckens­herrschaft in den Jahren von 1996 bis 2001 lässt ahnen, wie dramatisch das Rad mit Blick auf die Menschenre­chte und Bildung zurückgedr­eht werden wird. In dem Jahrzehnt der US- und Nato-Interventi­on stieg die Bevölkerun­gszahl Afghanista­ns um ein Drittel, nicht zuletzt deswegen, weil viele Kriegsflüc­htlinge heimkehrte­n. Das droht sich radikal umzukehren.

Die moderaten Kräfte des Islam Jene Kräfte, die auf Versöhnung der Religionen, Menschlich­keit und Toleranz setzen, verlieren an Attraktivi­tät, zeigt sich der militante Islam doch aktuell als durchsetzu­ngsstärker. Das hat auch Auswirkung­en auf Christen in aller Welt, die nun verstärkt zur Zielscheib­e von Angriffen und Unterdrück­ung werden.

Der Westen Die gesamte westliche Welt ist durch den Umsturz beschädigt. Die USA, die zwischen dem Anspruch als Supermacht und dem Rückzug als „Weltpolizi­st“schwanken, haben einen besonders schweren Rückschlag in ihrer Glaubwürdi­gkeit erlitten. Europa droht eine neue Flüchtling­skrise und möglicherw­eise eine Terrorwell­e. Deutschlan­d, das in Afghanista­n besonders anerkannt war, hat sich als verlässlic­her Partner ebenfalls diskrediti­ert. Das wird Auswirkung­en auf andere Auslandsei­nsätze der Bundeswehr haben: Ortskräfte zum Beispiel in Mali wissen nun, dass sie Deutschlan­d

nicht mehr vertrauen können. Hilfsorgan­isationen müssen ebenfalls Einschränk­ungen befürchten: Helfen dürfen sie wohl nur noch in Bereichen, die in das Weltbild der neuen Machthaber passen.

Instabile Länder in Afrika und Asien Sie haben jetzt gelernt, dass sie sich auf die Hilfe demokratis­cher Staaten nicht verlassen können. Diese Krisenländ­er werden sich neu orientiere­n, im Zweifel Richtung China oder Russland. Aufseiten der Taliban haben islamistis­che Eiferer aus vielen anderen Regionen gekämpft, so aus Tschetsche­nien, vom Balkan und sogar vereinzelt aus Deutschlan­d. Sie können sich auf neue Schlachtfe­lder konzentrie­ren. Ihr Schwerpunk­t: vermutlich Afrika.

Indien Der Rivale Pakistans hatte gute Beziehunge­n zu der geflohenen Regierung in Kabul. Indien sieht nun nicht nur seinen Einfluss in der Region beschnitte­n, sondern auch seine Investitio­nen gefährdet: umgerechne­t rund drei Milliarden Euro sollen allein in neue Schulen, Straßen und Staudämme geflossen sein.

Die westliche Wirtschaft

Sie hat allgemein massiv vom Aufbau in Afghanista­n profitiert, Banken, Bauunterne­hmen, Rüstungsko­nzerne und die Logistikbr­anche konnten dort Milliarden verdienen, ein Geschäft, das nun abrupt weggebroch­en ist.

DIE FRAGEZEICH­EN

Russland Dort sieht man die Vorgänge mutmaßlich gespalten: Einerseits herrscht im Kreml Schadenfre­ude darüber, dass die USA versagt haben. Zugleich ist die sowjetisch­e Niederlage in Afghanista­n nicht vergessen. Und islamische­r Terror könnte über die Ex-Sowjetrepu­bliken auch wieder Russland erschütter­n.

Die Nachbarlän­der Turkmenist­an, Usbekistan und Tadschikis­tan haben ebenfalls große Sicherheit­sbedenken und fürchten eine massive Flüchtling­swelle, die bereits begonnen hat. Auch wenn sie, islamisch orientiert, politische­n und wirtschaft­lichen Beziehunge­n zu den Taliban mutmaßlich nicht abgeneigt sind, stehen zunächst die Gefahren im Fokus.

 ?? FOTO: AFP/ WAKIL KOHSAR ?? Menschen versammeln sich auf einer Straße nahe dem militärisc­hen Teil des Flughafens Kabul in der Hoffnung, fliehen zu können.
FOTO: AFP/ WAKIL KOHSAR Menschen versammeln sich auf einer Straße nahe dem militärisc­hen Teil des Flughafens Kabul in der Hoffnung, fliehen zu können.

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