Rheinische Post Krefeld Kempen
Paar aus Willich hilft im Hochwassergebiet
Ilka Stoffels und Tobias Lamers haben seit der Flut jede freie Minute im Ahrtal verbracht und wollen das auch weiter tun. Sie fürchten, dass die Menschen dort allmählich in Vergessenheit geraten. Dabei ist noch unvorstellbar viel zu tun.
WILLICH/MAYSCHOSS Am 14. Juli ist Tobias Lamers damit beschäftigt, das Lager seines Ein-Mann-Handwerker-Betriebs zu sichern: Wegen des Starkregens droht das nahegelegene Regenrückhaltebecken in der Willicher Münchheide überzulaufen. Sein Lager bleibt verschont, da es Feuerwehr und THW gelingt, das Becken abzupumpen – doch dass er noch Wochen später beim Beseitigen von Hochwasserschäden helfen würde, ahnt der 31-Jährige da noch nicht. Nun, knapp sechs Wochen später, geht Lamers davon aus, dass er noch monatelang mit dem Hochwasser zu tun haben wird.
Der Willicher hilft seit dem Wochenende nach der Hochwasserkatastrophe freiwillig den Menschen an der Ahr – und sammelt dabei „Eindrücke, die ich nicht mehr vergessen werde“. Es sind Momente der Trauer, der Hilflosigkeit, der Verzweiflung, der Angst davor, Leichen zu finden, aber auch Momente der Dankbarkeit und der Freude. Es wird noch lange dauern, bis Lamers seine Gedanken und Gefühle sortiert haben wird.
Zurück zum Mittwoch, als die Ahr sich in einen reißenden Strom verwandelte und mitriss, was im Weg war – Bäume, Tiere, Autos, ganze Häuser und unzählige Menschen. Hunderte verloren in der Flut ihr Leben. „An dem Abend selbst habe ich von der Katastrophe im Ahrtal noch nicht viel mitbekommen, aber am Donnerstag haben meine Freundin und ich entschieden, dass wir helfen möchten“, sagt Tobias Lamers.
Am Samstag machten sich Lamers, seine Freundin Ilka Stoffels und drei Freunde in Lamers' Geländewagen – vollgepackt mit Hilfsgütern und Werkzeug – auf den Weg ins Katastrophengebiet – immer noch nicht ahnend, was sie dort erwarten würde. „Das war sehr beklemmend. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nicht viele Bilder gesehen.“
Von Sinzig aus, wo ein Freund vom Lamers wohnt, ging es weiter, zunächst vorbei an Bad Bodendorf – und die Truppe aus Willich war fassungslos: Die Ahr hatte eine fast 300 Meter breite Schneise ins Tal gefressen, überall lagen Autowracks. „Schlimmer kann es nicht mehr kommen“, dachte Lamers. Er sollte sich irren, wie sich noch mehrmals zeigte. In Bad Neuenahr wurden die Willicher von der Polizei abgewisen. „Es hieß, wir sollten lieber in die kleineren Dörfer fahren“, sagt
Lamers. Und so ging es nach Schuld.
„Als wir die Serpentinen runtergefahren sind, hatten wir freie Sicht auf das Trümmerfeld. Im Auto war es still“, schildert Lamers die gespenstische Situation. „Der Ort sah aus wie nach einem Bombenangriff“, sagt Ilka Stoffels. Helikopter schwebten in der Luft, der Schlamm stand einen halben Meter hoch, Menschen warfen Möbel aus den Fenstern, Autos und Wohnwagen lagen herum wie Spielzeugautos. „Als es dann ans Helfen ging, habe ich nur noch funktioniert“, erinnert sich Lamers.
Die Helfer aus Willich gingen ins erstbeste Haus und waren die nächsten Stunden damit beschäftigt, Keller von Schlamm zu befreien und Ölfässer rauszutragen. „Auf einer Schippe mit Schlamm lag auch ein Babyschnuller“, sagt Ilka Stoffels, Mutter eines neun Monate alten Sohnes. „Das war einfach surreal. Die Leute standen wie ohnmächtig vor dem Riesenberg Schlamm und Schutt, wussten gar nicht, wo sie anfangen sollten. Als wir am Sonntag wiederkamen, konnten die Leute es gar nicht fassen.“Die tiefe Dankbarkeit, der Galgenhumor der Bewohner und auch die Umarmungen hätten ihnen geholfen, das durchzustehen. „Eine richtige psychologische Betreuung der Einwohner und Helfer gibt es dort bis heute nicht“, beklagt Stoffels. „Man versucht zu helfen, obwohl man selbst am Tiefpunkt angekommen ist.“
Tobias Lamers Helfer
Auch am Montag setzten sich Ilka Stoffels und Tobias Lamers wieder ins Auto, halfen diesmal im Ort Insul, der von der Ahr geteilt wird. „Die andere Seite war nicht mehr zu erreichen, weil die Brücken weg waren“, sagt Lamers. Dienstags ging
Lamers dann wieder seiner Arbeit in Willich nach. „Ich habe bei einem Kunden die Hecke geschnitten – und plötzlich dachte ich: Was tust du hier eigentlich?“
Tags drauf ging es also wieder nach Bad Neuenahr, wo diesmal ein Zelt zum Übernachten aufgebaut wurde – die Hin- und Her-Fahrerei nach Willich war einfach zu anstrengend und zeitraubend. „Da haben wir zum ersten Mal gehört, dass Mayschoß nicht erreichbar ist. Den Ort kannte ich von Weinfesten, da ich seit meiner Jugend oft zum Campen im Ahrtal war“, sagt Lamers.
Donnerstags ging es los, und da die Straße fehlte, fuhr Lamers über kleine Wege quer durch die Weinberge und kam an der Kirche von Mayschoß an. „Schuld war schon schlimm, aber in Mayschoß standen viele Häuser gar nicht mehr, an einem Haus fehlte eine Wand, man konnte hineinschauen wie in ein Puppenhaus. Vor dem Haus ein großer Krater, wo mal die Sparkasse war“, schildert Ilka Stoffels. Helfer von außerhalb seien noch nicht da gewesen, die Menschen hätten sich
selbst organisiert, wurden lediglich von Helikoptern unterstützt. „Manche Bewohner haben in der Kirche geschlafen“, sagt Lamers. „Erwachsene Männer haben uns weinend in den Arm genommen.“Lamers sagt, die Verzweiflung bei vielen, die nicht nur Hab und Gut, sondern auch Angehörige verloren haben, sei so groß, dass sich viele das Leben nähmen. „Das ist dort ein großes Problem, über das nicht berichtet wird.“
Freitags gab es weitere Hilfe aus Willich: „Jungs des Löschzugs Schiefbahn und der Schützenzug ,Söllerschützen', in dem ich Mitglied bin, sind mit uns nach Mayschoß gefahren.“Im Hotel „Zur Saffenburg“half die Truppe, Schutt mit Kettensägen zu zerkleinern und Decken herauszureißen. „Niemand wusste, was mit der Statik ist. Alle Häuser, in denen wir waren, hätten über uns zusammenbrechen können. Aber darüber denkt man in dem Moment einfach nicht nach“, sagt Lamers. Man funktioniere und entwickele Kräfte, die man nicht für möglich gehalten hätte. Immer im Hinterkopf: die Angst, Leichen zu finden.
Drei beziehungsweise vier Wochenenden plus einige Wochentage haben Ilka Stoffels und Tobias Lamers seit der Flut im Ahrtal verbracht, und für Lamers ist klar, dass er dort weiter beim Aufbau helfen wird. Er fürchtet, dass das Interesse und die Hilfsbereitschaft nun allmählich abebben. „Dabei ist noch unvorstellbar viel zu tun. Der Winter steht bevor, viele Häuser haben keine Fenster mehr, die Infrastruktur fehlt. Die Leute realisieren immer mehr, dass sie alleine dastehen“, sagt Lamers.
Da Lamers als Handwerker selbstständig ist, möchte er ab dem nächsten Monat unter der Woche ganz an die Ahr gehen und dort seine Dienste anbieten. Denn nicht nur an freiwilligen Helfern fehlt es, auch Betriebe, die beim Wiederaufbau helfen können, werden dringend benötigt. Einige wurden selbst Opfer des Hochwassers. Tobias Lamers appelliert: „Vergesst die Menschen im Ahrtal nicht. Sie benötigen immer noch Hilfe, und ein einzelner Helfer ist so viel wert als eine ganze Armee.“
„Alle Häuser, in denen wir waren, hätten über uns zusammenbrechen können. Aber da denkt man in dem Moment nicht drüber nach“