Rheinische Post Krefeld Kempen
Aufführung kostete 15.000 Milliarden Mark
Vor 100 Jahren wurde der Quartett-Verein Eintracht Mülhausen gegründet. Die Regeln waren streng: Vor der ersten Pause durften die Sänger nicht rauchen.
MÜLHAUSEN Es gab viele Vereine in Mülhausen, die eine lange Zeit bestanden und dann aufgelöst wurden, wie zum Beispiel der Fußballverein Rhenania Mülhausen 1910 oder der Männer-Gesang-Verein M.G.V. von 1903. Einige Traditionsvereine bestehen noch heute, wie die St.-Vitus- und St.-HeinrichSchützenbruderschaft Mülhausen von 1664/1903 oder der St.-Martinsverein von 1904. Einer der jüngeren Vereine ist Blau-Weiß Mülhausen, der 1970 in der Fußballsparte startete und heute als Tischtennisverein bekannt ist. Er ist gerade erst 50 Jahre alt geworden.
Der Quartett-Verein Eintracht zu Mülhausen wurde vor 100 Jahren gegründet. Am 4. September 1921 trafen sich in der Gaststätte Dohmes in Mülhausen 17 Sänger, um einen vierstimmigen Männerchor zu gründen, von denen es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Umgebung von Mülhausen viele gab. Jeweils zwei Gruppen von Tenor- und Bass-Stimmen ergaben das Quartett. Schnell kamen weitere Sänger dazu, so dass mit 27 Mitgliedern gestartet werden konnte.
Zum ersten Vorsitzenden wurde Mathias Jöres und zum Dirigenten Heinrich Borgs gewählt. Der erste Auftritt des neu gegründeten Quartettvereins war zu Weihnachten 1921. Die aktiven Mitglieder hatten zwei Theaterstücke – ein Schauspiel, „Der Student von Ulm“, und ein Lustspiel, „Der Harmonika-Onkel“– einstudiert, zwischen denen sie eine Kostprobe ihrer Lieder im gut besetzten Saal des Vereinslokals Dohmes gaben.
Regelmäßig wurden „Ball-Lustbarkeiten mit Verlosung“ins Programm gesetzt. Von den „Jünglingen“und fremden tanzwilligen Männern wurde dazu ein „Tanzgeld“erhoben. An den Hauptgewinnen der Verlosung erkennt man die Armut, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg herrschte: Zu gewinnen gab es Gänse-, Hühnerund Schokoladeneier im Wert von 210 Mark. Soviel kostete zu dieser Zeit auch eine gute Flasche Cognac. Auch die Stiftungsfeste und Familienabende waren mit einer Verlosung verbunden. Die Verlosungen waren eine wichtige Einnahmequelle für die Vereinskasse.
Jährlich sollte ein Ausflug in die Ferne stattfinden. Die erste Reise ging dann nach Kleve, eine weitere ins Neandertal. Dies war eine der wenigen Möglichkeiten der Frauen der Sänger, am aktiven Leben des Vereins teilzunehmen, außer bei den Festlichkeiten, bei denen jedes Mitglied „eine Dame frei“hatte, wie es in den Statuten heißt.
Durch die zahlreichen Männergesangund Quartettvereine in der näheren Umgebung, etwa beim Sängerfest des Gesangvereins Frohsinn in Oedt oder bei der M.G.V. Sängervereinigung in Süchteln, waren weitere Gesangsauftritte auf der Tagesordnung. Jedes Jahr verschönerte der Quartettverein mit seinen Liedern auch das St.-Martinsfest.
Wer in den Quartettverein aufgenommen werden wollte, hatte vor dem Dirigenten eine Gesangsprobe zu bestehen. Die Mitglieder entschieden dann über die Aufnahme durch eine geheime Abstimmung oder durch die „Ballotage“, also durch Abgabe von weißen oder schwarzen Bohnen. Eine Mehrheit der weißen oder der schwarzen Bohnen entschied über Aufnahme oder Abweisung des Antragstellers.
Um die Vereinskasse zu füllen, wurden Ehrenmitglieder angeworben. Bald machte sich das Inflationsjahr 1923 bemerkbar: Der Beitrag für Ehrenmitglieder wurde von jährlich 50 auf 500 Mark festgesetzt. Die Anzahl der Ehrenmitglieder war gewöhnlich zwei- bis dreimal so hoch wie die Zahl der aktiven Mitglieder. Am 26. Dezember 1923, der Hochzeit der Inflation, musste der Verein 15.000 Milliarden Mark für eine Aufführung an den Dirigenten und dem Klavierspieler bezahlen. Die Theatersteuer hierfür verschlang noch einmal 5325 Milliarden Mark. Im März 1924 wurde die Goldmark eingeführt – 1 Goldmark hatte einen Umrechnungswert von 1 Billion Mark.
Streng ging es zu, wenn ein aktives Mitglied zu spät zur Chorprobe erschien oder unentschuldigt die Generalversammlung schwänzte. Bei einer Verspätung von fünf Minuten wurde eine Strafe im Wert eines Glas Bieres festgesetzt, bei unentschuldigter Abwesenheit das doppelte. Strafgelder wurden aber so gut wie keine ins Kassenbuch eingetragen. Wer ohne „genügende Entschuldigung dreimal nacheinander fehlt, kann aus dem Verein ausgeschlossen werden“, so legte es die Satzung fest. Während der Gesangsproben wurden die Mitglieder verpflichtet, nicht „vor der ersten Pause zu rauchen oder Getränke zu sich zu nehmen“.
Das Jahr 1924 ging schließlich besonders in die Vereinsgeschichte ein. Bei den Schwestern der Ewigen Anbetung an der Neersdommer Mühle, heute Abtei Mariendonk, wurde eine Vereinsfahne in Auftrag gegeben. Schon nach drei Monaten konnte die Fahne, sie kostete 275 Goldmark, dort abgeholt und durch ihren Präses, Rektor Stephan Schnieder, feierlich geweiht werden. Die Fahnenweihe war verbunden mit einem großen Festbankett und Festzügen durch den Ort an allen drei Festtagen.
Die Gewinne bei den zahlreichen Verlosungen wurden immer üppiger. Neben dem Korb von 12 Gänseoder 15 Hühnereiern konnten nun bereits eine Flasche Cognac oder 50 Zigaretten im Gesamtwert von 11 Goldmark gewonnen werden.
1925 wurde der Quartettverein Mitglied im Rheinischen Sängerbund. Bis 1927 erfreute sich der Verein
mit zahlreichen Konzerten großer Beliebtheit. Doch dann zwangen die wirtschaftlichen Verhältnisse die Mitglieder dazu, den Verein ruhen zu lassen. Aber auch danach kam das Quartett nicht mehr zu seiner früheren Blüte zurück. Die Mitgliederzahl war inzwischen von 28 auf die Hälfte zurück gegangen. Neuzugänge gab es keine mehr. Konzertauftritte waren so nicht mehr möglich. Es fanden noch kleine Ständchen statt. Auch Familienfeiern mit Verlosungen wurden noch durchgeführt.
Schließlich beschlossen am 10. August 1935 die letzten zwölf aktiven Mitglieder, den Verein vorläufig ruhen zu lassen. Danach führt das Protokollbuch des Quartetts Eintracht Mülhausen keine Eintragungen mehr auf. Ob zu dieser Zeit auch politischer Druck auf den Verein ausgeübt worden ist oder der fehlende Nachwuchs die Ursache für das Ruhen der Vereinstätigkeit war, lässt sich nicht mehr herausfinden. Auch Wiedergründungsversuch nach dem Krieg sind nicht bekannt.