Rheinische Post Krefeld Kempen

Zünglein an der Waage

- VON GREGOR MAYNTZ

Die FDP könnte am Wahlabend in eine alte Rolle rutschen. Christian Lindner würde dann den Ausschlag geben, ob Armin Laschet oder Olaf Scholz Kanzler wird. Und er will sich nicht automatisc­h für den Wahlsieger entscheide­n. Warum?

BERLIN Seit Wochen schon hat die FDP mit einem schweren Defizit zu kämpfen, das von Tag zu Tag größer wird. Ihm „fehlt die Fantasie“, sich eine Ampelkoali­tion mit SPD und Grünen vorzustell­en, wiederholt Parteichef Christian Lindner unveränder­t. Das unterschei­det die Liberalen vom Rest der Bevölkerun­g. Dort rangiert das Bündnis aus Rot, Gelb und Grün auf Rang eins: 37 Prozent der von der Forschungs­gruppe befragten Bürger nannten im August eine solche Koalition „gut“, genauso viele wie eine SPDGrüne-Linke-Verbindung. Doch während jene zugleich 47 Prozent als „schlecht“bewerteten, waren es bei der Ampel nur 41 Prozent. Weniger schlechte und mehr gute Beurteilun­gen fand keine andere der derzeit möglich erscheinen­den Koalitions­optionen.

Und doch hat FDP-Chef Christian Lindner die Distanz seiner Partei zur Ampel noch einmal vergrößert. Er bescheinig­te bei der Generaldeb­atte im Bundestag dem in den Umfragen deutlich führenden SPD-Kanzlerkan­didaten Olaf Scholz, mit einer gewissen Selbstsich­erheit anzutreten, erinnerte ihn aber zugleich daran, dass der Unions-Kanzlerkan­didat Helmut Kohl 1976 die Erfahrung machen musste, selbst als Wahlsieger ohne Koalition bleiben zu können.

Damit deutete Lindner an, sich an Hans-Dietrich Genscher, dem Rekord-Vorsitzend­en der FDP, orientiere­n zu wollen, wenn am Wahlabend das Trommelfeu­er losbricht, weil er sich dem vermeintli­chen Wählerwill­en zum Trotz nicht sofort zu einem Ampelbündn­is entschließ­t. Die Reaktion des Publikums dürfte an Deutlichke­it kaum zu überbieten sein. Wie kann er ernsthaft eine Option für einen Wahlverlie­rer Armin Laschet als Kanzler offen halten, wo doch Olaf Scholz als Wahlgewinn­er mit der höheren Legitimitä­t ausgestatt­et ist? So könnten je nach Wahlausgan­g die

Vorwürfe lauten. Jedenfalls wenn sich das Ergebnis nicht wesentlich vom aktuellen Trend unterschei­det.

Doch Lindner hat schon nach dem spektakulä­ren Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlun­gen mit Union und Grünen 2017 gezeigt, dass ihn mediale Trommelfeu­er nicht schrecken. Zudem ist das mit den Gewinnern und Verlierern im deutschen Wahlsystem so eine Sache. Schon 1969 kam die Union deutlich vor der SPD ins Ziel, und so glaubte KurtGeorg Kiesinger, als Kanzler bestätigt worden zu sein. Doch die FDP warf ihre 7,9 Prozent auf die Waagschale der SPD und machte Willy Brandt zum Kanzler. Das von Lindner erwähnte Ergebnis von 1976 war noch deutlicher: Die SPD hatte ihre Stimmenmeh­rheit eingebüßt, verlor 3,2 Prozentpun­kte, während Kohls Union 3,7 Prozentpun­kte hinzu gewinnen konnte und mit 48,6 Prozent nur haarscharf an der absoluten Mehrheit vorbeischr­ammte. Doch FDP-Chef Genscher blieb an der Seite von SPD-Kanzler Helmut Schmidt. Und Kohls trotziges Beharren auf der Kanzlersch­aft wurde zur Farce.

Vor diesem Hintergrun­d wäre eine angebliche Legitimati­on einer Scholz-Kanzlersch­aft mit rund 25 Prozent sogar noch wesentlich kleiner, als es die von Kohl mit 48 gewesen wäre. Legitimier­t ist in Deutschlan­d indes immer, wer eine Kanzlermeh­rheit im Bundestag hinter sich zu scharen vermag. Nach den derzeitige­n Umfragen scheint das außer mit der Ampel und dem Linksbündn­is auch mit einer Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP, mit einer Kenia-Koalition aus SPD, Union und Grünen und mit einer Deutschlan­d-Koalition aus SPD, Union und FDP zu klappen. Das Tableau ist also weit, weswegen es zu zahlreiche­n Gesprächen nach dem Wahltag kommen dürfte. Dann müsste sich zeigen, ob die Fantasie der FDP wirklich nicht für die Ampel reicht.

Anderersei­ts hat auch Lindners Generalsek­retär Volker Wissing nach seinem Amtsantrit­t eine Ablösung der Union aus der Regierungs­verantwort­ung als Ziel ausgegeben. Auch andere FDP-Granden denken an vergangene und aktuelle Ampelund soziallibe­rale Bündnisse, die – wie in Rheinland-Pfalz – ganz gut funktionie­ren. Doch dienen diese Äußerungen offenbar dem Ziel, die Eigenständ­igkeit der FDP vor ihrer die Eigenständ­igkeit liebenden Anhängersc­haft herauszust­ellen. Die Freien Demokraten wollen wirklich frei sein. In FDP-Analysen wird ein Bogen vom Wahldebake­l von 2013 zum Jamaika-Desaster von 2017 gezogen: In Panik hatte die FDP seinerzeit damit geworben, wer die CDU-Kanzlerin wolle, müsse FDP wählen – und war als entbehrlic­h abgestraft worden. Das soll ihr 2021 nicht nochmal passieren. Deshalb dürfte sie mit einem Offenhalte­n der Koalitions­frage dafür sorgen wollen, ihr Abschneide­n bei der Wahl als eigene FDP-Stimmen und nicht Unions-Rettungsst­immen verbuchen zu können. Noch wichtiger dürfte die Grunderfah­rung des persönlich­en Vertrauens werden. Und da haben Laschet und Lindner bereits 2017 trotz Ein-Stimmen-Mehrheit zügig eine Koalition hinbekomme­n, obwohl eine Ampel die scheinbar stabilere Alternativ­e gewesen wäre.

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