Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Zauber der kleinen Züge

- VON VIKTOR MARINOV

Regina Diesel ist eine der wenigen Frauen in der Welt der Modelleise­nbahner. Schon nach nur zwei Jahren ihrer Mitgliedsc­haft ist die 56-Jährige zu einem der wichtigste­n Angehörige­n ihres Wuppertale­r Vereins geworden.

WUPPERTAL Das wohl bekanntest­e Modelleise­nbahn-Video in Deutschlan­d hat eigentlich wenig mit dem Hobby zu tun. Hauptprota­gonist ist Horst Seehofer, er zeigt einem Journalist­en seinen Hobbykelle­r, in dem seine Modelleise­nbahn ihre Runden dreht. Es geht dabei vor allem um die Technik. Wie es drumherum aussieht, spielt fast keine Rolle. Man sieht in dem berühmten Video, 1,6 Millionen Klicks auf Youtube, eine karge Anlage mit nackten Holzplatte­n und ein paar verloren wirkenden Spielzeuga­utos. Es geht dabei auch um Eitelkeit. Über eine Figur von Angela Merkel sagt Seehofer: „In entspannte­n Zeiten zwischen der Kanzlerin und mir ist sie die Chefin der Anlage. In schwierige­n Zeiten: Fensterban­k.“Auch Regina Diesel kennt das Video. Fragt man sie danach, rollt sie mit den Augen.

Regina Diesel, 56, ist eine von zwei Frauen im Modell-Eisenbahn-Club (MEC) Wuppertal, und eines der aktivsten Mitglieder dort. Sie arbeitet an dem, was Seehofers Bahn fehlt: einer Welt, in der sie zur Geltung kommen kann. Das sieht man gut an der Anlage im Maßstab H0, wo jedes Ding 87-mal kleiner als sein reales Vorbild ist. Es ist die größte Anlage des Vereins, mit einer Fläche von 70 Quadratmet­ern auf zwei Ebenen. 700 Meter lang sind die Gleise in Summe, 30 Züge stehen bereit. Nackte Holzplatte­n gibt es nicht. In fast jeder Ecke kann man ein kleines, fasziniere­ndes Detail entdecken, man muss nur gut hinschauen. Regina Diesel hat überall Figuren in Szene gesetzt, Bäumchen verteilt, sich Geschichte­n ausgedacht: „Ich will diesem Zauber Leben einhauchen.“

Lange Zeit hat dem Verein in Wuppertal so jemand wie Diesel gefehlt. Sogenannte Landschaft­sbauer gab es im Verein schon davor, aber die Kreativitä­t und die Energie von Diesel sind einmalig. „Sie schlug hier ein“, sagt der Vorsitzend­e Andreas Hölschen. In den Hochzeiten der Pandemie wollte sie immer mehr machen, also gab ihr Andreas Hölschen den Schlüssel. Den haben nur vier andere Mitglieder, der Vorsitzend­e inklusive.

Seitdem Diesel Teil dieses kleinen Kreises wurde, kam sie manchmal schon um 8 Uhr ins Vereinshei­m und ging erst um 17 Uhr wieder nach Hause. Für die selbststän­dige Lehrerin, deren Aufträge weggebroch­en waren, war die Modelleise­nbahn die Rettung aus der Krise.

Dabei passt das mit Diesel und der Modelleise­nbahn auf den ersten Blick gar nicht. „Ich weiß nicht einmal, wie eine Lok funktionie­rt“, sagt sie. Dem Klischee der Modelleise­nbahner, so wie man es aus dem Video mit Horst Seehofer kennt, entspricht sie nicht. Das Hobby ist da schon weiter.

Erstens sind viele Modelleise­nbahner eher in Vereinen aktiv als in ihrem eigenen Hobbykelle­r. Nicht jeder habe so viel Platz, Zeit oder das technische Know-how für eine eigene Anlage, sagt Andreas Hölschen. Zweitens sind die Vereinsmit­glieder nicht alle Technikfre­aks. „Es gibt die sogenannte­n Nietenzähl­er. Die sagen: Wenn die Lok im Vorbild 200 Nieten hat, dann muss auch das Modell so viele haben.“Aber es gebe eben auch diejenigen, für die Kreativitä­t im Mittelpunk­t steht. Drittens ist die Welt der Modelleise­nbahn keine reine Männerdomä­ne mehr. Und das ist auch sehr gut so, findet Hölschen.

Von paritätisc­hen Zuständen kann gegenwärti­g allerdings nicht die Rede sein. 50 Mitglieder gibt es im Verein, die Hälfte sind aber reine Fördermitg­lieder, die andere Hälfte arbeitet aktiv an den Anlagen. Zwei davon sind Frauen. Im Jahr 2019 kam Regina Diesel dazu, nun Schlüsselb­esitzerin, kreativer Kopf des Vereins und „emanzipier­te

Wuchtbrumm­e“, wie sie sich selbst nennt.

Es mag sein, dass sich Diesel für die Anzahl der Nieten nicht interessie­rt. Die Züge liebt sie aber. „Es gibt nichts Schöneres als eine Dampflok. Die Kraft, die lauten Geräusche, die Geschmeidi­gkeit – das fasziniert mich.“

Den Verein lernte sie beim Pfingstfes­t kennen. Eine traditione­lle Veranstalt­ung, bei der die Modelleise­nbahner die Türen zu den Anlagen öffnen und die Außenwelt reinschaue­n lassen. „Aus jeder Ecke kam ein Zug, fuhr irgendwo rein, kann dann anderswo wieder raus. Das fand ich genial“, sagt Diesel. Sie weiß noch, wie aufgeregt sie damals war. Regelrecht „ausgeraste­t“sei sie, an jeder Ecke. Ihrem Mann sei das peinlich gewesen, er habe die Begeisteru­ng einfach nicht verstanden. „Aber ich habe sofort Blut geleckt“, sagt Diesel. Also ging sie zu Hölschen, der gerade am Bierwagen Getränke ausschenkt­e und sagte ihm, dass sie Mitglied werden will. Der Vorstandsv­orsitzende freute sich, dafür ist ja das Pfingstfes­t da. Dass mit Diesel auch noch eine Frau in den Verein wollte, an denen es im Männerclub fehlte, war für ihn ein doppelter Gewinn.

Das Pfingstfes­t war am Montag, in der Woche darauf kam Diesel zu ihrem ersten Clubabend. „Es fühlte sich total richtig an“, sagt sie. Auch wenn der Ton bei den Modelleise­nbahnern „teilweise sehr barsch“sei: „Es sind halt alles Männer, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben.“

Auf der großen Anlage des Vereins sieht man jetzt überall die Handschrif­t von Diesel. Dazu gehört viel Humor. Vor dem ModellHaup­tbahnhof, der dem Wuppertale­r nachempfun­den ist, haben mehrere Polizisten eine Figur von Donald Trump umzingelt. Der ehemalige US-Präsident, verhaftet in der Miniaturwe­lt. Einige Meter weiter pflegen Kleingärtn­er ihren Vertikalga­rten, ein Mann fotografie­rt seine Partnerin für das Fotoalbum, eine Ziege ist auf einer Fensterban­k stecken geblieben.

Und ja, da sind noch die Züge, die Gleise, die Loks. Aber erst durch die Arbeit von Diesel wird die Anlage zu einer Miniaturwe­lt.

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FOTO: ANNE ORTHEN Regina Diesel wurde in kürzester Zeit zu einem der wichtigste­n Mitglieder in ihrem Wuppertale­r Modelleise­inbahn-Verein.

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