Rheinische Post Krefeld Kempen
„Ehrenmorde“sollten nicht länger so heißen
Sie sind die Schattenseite eines archaischen Werteverständnisses. Auch der Begriff verstört. Ein Mord ist niemals ehrenhaft.
Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland lange ein TabuThema gewesen. Erst 2002 wurde dazu die erste repräsentative Untersuchung vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben. Das zwei Jahre später vorgelegte Ergebnis löste Betroffenheit aus: 40 Prozent aller befragten Frauen gaben an, entweder körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlebt zu haben. Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine Partnerin zu töten; an jedem dritten Tag gelingt es. In einigen Fällen aber sind nahe Verwandte des Opfers die Täter. 2005 noch als „Unwort des Jahres“vorgeschlagen, fand die Bezeichnung für diese spezielle Form des Verbrechens 2009 schließlich Eingang in den Duden: „Ehrenmord“.
Aber lassen sich Ehre und Mord in Einklang miteinander bringen? Und relativiert die Formulierung womöglich die Schwere der Tat, selbst wenn sie im Zusammenhang mit einem in unserem Kulturkreis nicht akzeptablen Ehrenkodex genannt wird? Seit der mutmaßlichen Tötung einer aus Afghanistan stammenden 34-Jährigen im Juli in Berlin durch zwei ihrer Brüder wird über diese Frage wieder gestritten. Laut Staatsanwaltschaft sollte durch die Tat die Familienehre wiederhergestellt werden, die die Männer durch die „zu westliche Lebensweise“der Schwester offenbar verletzt sahen. Doch Mord und Ehre in einem Atemzug zu nennen, erscheint mittelalterlich. Tausend Jahre sind vergangen, seit es hierzulande etwa Ehemännern nach sächsischem Recht erlaubt war, eine untreue Gattin zu töten oder ihr zumindest Nase und Ohren abzuschneiden (Seitensprünge des Mannes galten nicht als ehrenrührig).
Allerdings: Mit dem Begriff der Ehre sind auf deutschem Boden die größten Schandtaten der Geschichte eng verwoben, und die liegen keine hundert Jahre zurück. Seit die Nazis Ehre nicht nur über Recht und Gesetz, sondern über die Menschlichkeit stellten, geht man hierzulande behutsam mit dem Wort um. Es gibt Ehrenämter, Ehrenbürger, Ehrenplätze, letzte Ehren – durchaus honorige Überbleibsel auf dem weiten Feld der Ehre, das sich mehr als einmal in ein Schlachtfeld verwandelt hat. Dabei hatte schon William Shakespeare vor mehr als 400 Jahren gefragt: „Kann Ehre ein Bein ansetzen? Nein. Oder einen Arm? Nein. Oder den Schmerz einer Wunde stillen?“
Nun fordert die Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“, das Problem beim Namen zu nennen, nämlich als „Ehrenmord“, da es sich eben nicht um Femizid handele, also die Tötung von Frauen, einfach weil sie Frauen sind. Vielmehr wird nach Ansicht der Organisation in Berlin Gewalt im Namen der Ehre von patriarchalischen Gesellschaften ausgeübt, in denen Mädchen und Frauen grundsätzlich nicht die gleichen Rechte wie Männer hätten. Die Linguistin und Rapperin Reyhan Sahin wiederum hält die Bezeichnung für rassistisch, da sie nur für Taten muslimischer, kurdischer oder jesidischer
Shakespeare Männer benutzt werde, hingegen man bei weißen Tätern von Trennungsmorden, Beziehungsdramen oder Verzweiflungstaten spreche. Die Lage ist kompliziert.
Ehre im modernen westlichen Verständnis hat viel mit Respekt zu tun, Respekt wiederum mit Toleranz, und alles zusammen verbietet es, Menschen ernsthaft zu schaden. So einfach könnte es sein. Unter einem Ehrenmann (Ehrenfrau hat sich erst als Jugendwort des Jahres 2018 etabliert) stellen wir uns heute gemeinhin jemanden vor, der durch moralisch vorbildliches Verhalten Maßstäbe für andere setzt. Traditionelle Ehre hingegen funktioniert genau andersherum: Sie wird ausschließlich von der jeweiligen sozialen Bezugsgruppe ihren Mitgliedern zugesprochen, beziehungsweise bei Verstößen gegen den Kodex konsequent entzogen. Anders ausgedrückt: Im althergebrachten Sinne ist Ehre, die man nicht verlieren kann, keine Ehre.
Großfamilien, Clans, Stämme, Dorfgemeinschaften können eine solche Bezugsgruppe bilden, Ethnien oder Religion spielen eine Rolle,
und je mehr staatliche Strukturen fehlen, desto stärker fällt ein solcher Ehrenkodex als gesellschaftliches Ordnungssystem ins Gewicht. Das Gefühl, Ehre zu besitzen, schweißt indes auch jene zusammen, die sonst nichts anderes haben, es bildet somit das Fundament für Parallelgesellschaften ebenso wie für kriminelle Organisationen. Das Grundproblem von zum Teil uralten Ehrenkodizes
ist, dass sie im Zweifel das aktuell geltende Gewaltmonopol und andere Gesetze des Staates missachten, wenn es darum geht, Scham und vermeintlich entstandene Schande zu tilgen oder Schaden von sich selbst abzuwenden. Als verbindlich angesehen wird allein die Erwartungshaltung der Bezugsgruppe, die Ehre notfalls mit Blut reinzuwaschen. Zugleich deckt das Kollektiv in der Regel die Taten. Kein Geringerer als Ferdinand Lasalle, einer der Gründerväter der SPD, starb 1864 im Alter von 39 Jahren an den Folgen eines streng verbotenen Pistolenduells, mit dem er seine Ehre im Streit um eine Frau wiederherzustellen suchte. Selbst Standesbewusstsein knüpft nicht selten an skurrile Regeln.
Auch Altkanzler Helmut Kohl glaubte, sich unter Bezug auf sein Ehrenwort über geltendes Recht stellen zu können, indem er die Namen angeblich vorhandener anonymer Parteispender bis zuletzt nicht preisgab. Das ist selbstverständlich nicht vergleichbar mit weitaus schwerwiegenderen Untaten, die ansonsten im Namen der Ehre begangen werden. Doch für einen verdienten Staatsmann, der fünfmal schwor, die Gesetze des Landes zu achten, bleibt es ein bemerkenswerter Vorgang.
Wenn aber in diesen Tagen Frauen oder auch Männer mitten in Deutschland sterben müssen, weil der Vater, die Brüder und, wie in Einzelfällen bekannt, auch die Mutter des Opfers dies so beschlossen haben, da ihnen dessen Lebensweise nicht passte, dann macht das in der Terminologie durchaus einen Unterschied zum Vorgehen eines vor Rachsucht rasenden Partners, auch wenn das Ergebnis gleichermaßen schrecklich bleibt. Selbst wenn sogenannte Ehrenmorde von den Tätern nicht als eigentliche Morde angesehen werden, sondern als Pflicht zur Wiederherstellung eines vorherigen Zustands: An einem Mord gibt es nichts Ehrenhaftes. Entsprechend findet sich im deutschen Strafgesetzbuch dazu kein eigener Straftatbestand.
Den hin und wieder geäußerten Verdacht, aus Rücksicht auf Traditionen könnten Mörder im Namen der Ehre vor deutschen Richtern mit einer Art „Kultur-Rabatt“rechnen, hat die Rechtswissenschaftlerin Julia Kasselt widerlegt. Sie untersuchte 63 Fälle von „Ehrenmorden“und 91 Fälle von klassischen Beziehungstaten mit dem Ergebnis, dass „Ehrenmörder“im Durchschnitt nicht geringere, sondern höhere Freiheitsstrafen erhielten.
Wie aber die spezielle Tat benennen? Mord aus vermeintlicher Ehre? Sogenannter Ehrenmord in Anführungsstrichen? „Mord im Namen der Familie“trifft es wohl am ehesten. Und obwohl das reichlich sperrig klingt, müsste es künftig genau so zum Ausdruck gebracht werden.
„Kann Ehre ein Bein ansetzen? Nein. Oder einen Arm? Nein. Oder den Schmerz einer Wunde stillen?“