Rheinische Post Krefeld Kempen

Verlockung von rechts außen

Das deutsche Drama „Je suis Karl“bietet zwei Stunden großes Gegenwarts­kino.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Nachdem Alex (Milan Peschel) ein Paket für die Nachbarin angenommen hat, geht er noch einmal kurz hinunter zum Auto. Es gibt einen Knall, und die folgende Druckwelle wirft ihn zu Boden. Die Explosion hat das halbe Gebäude weggerisse­n. In dem Paket, das Alex im Flur abgestellt hat, war eine Bombe. Seine Frau und die beiden Söhne sind tot. Nur die ältere Tochter Maxi (Luna Wedler) hat überlebt. Als die Polizei den verstörten Mann befragt, kann Alex sich nur daran erinnern, dass der Paketbote einen dunklen Bart hatte. Grund genug für viele Medien, einen islamistis­chen Terrorangr­iff zu vermuten.

Diese Spekulatio­nen spielen für Vater und Tochter zunächst keine Rolle. Sie sind zu sehr mit den traumatisc­hen Verlustsch­merzen beschäftig­t. Dann lernt Maxi Karl (Jannis Niewöhner) kennen. Er ist zugewandt, respektvol­l, einfühlsam, und er lädt Maxi auf einen Kaffee und wenig später zu einer Sommerakad­emie ein, wo junge Menschen aus ganz Europa ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen wollen. Um auf andere Gedanken zu kommen, nimmt Maxi das Angebot an.

Was sie nicht ahnt und das Publikum jetzt erfährt: Es war Karl, der das Paket ausgeliefe­rt und die Bombe gezündet hat. Der smarte Student ist Mitglied eines rechtsradi­kalen Netzwerks, das auf paneuropäi­scher Ebene agiert. Der Anschlag ist Teil einer Strategie der Destabilis­ierung, an deren Ende der erhoffte Umsturz steht. Neben den verdeckten

Terrorakti­onen versucht das Netzwerk mit wachsendem Erfolg auch eine rechtspopu­listische Jugendbewe­gung aufzubauen. Die Sommerakad­emie in Prag erstrahlt als hipper Campus, das identitäre Gedankengu­t wird unter dem Label „Re/Generation Europe“über diverse Social-Media-Kanäle hinaus in die Welt getragen. Maxi lässt sich nach ihrer traumatisc­hen Erfahrung vom positiven Vibe und Karls charismati­scher Sexyness mitreißen.

Mit erzähleris­cher Stringenz und realistisc­hem Überzeugun­gsvermögen entwerfen Regisseur Christian Schwochow („Deutschstu­nde“/ „Bad Banks“) und Drehbuchau­tor Thomas Wendrich in „Je suis Karl“ein Szenario, das die Schraube der gesellscha­ftspolitis­chen Wirklichke­it nur ein paar Umdrehunge­n weiterdenk­t. Denn die Benutzerob­erfläche des modernen Rechtsradi­kalismus ist längst nicht mehr von tumben Glatzkopfs­chlägern bestimmt. Die identitäre Bewegung greift gezielt nach dem Mainstream. „Je suis Karl“entwirft eine sehr präzise Fiktion, die die Strategien und Wunschvors­tellungen der neuen Rechten ernst nimmt. Und die erschrecke­nde Erkenntnis nach zwei atemberaub­enden Kinostunde­n lautet: All dies ist vorstellba­r, bis hin zu den bewaffnete­n Bürgerkrie­gsszenen in Straßburg am Ende des Films, die längst durch die Nachrichte­nbilder von der Erstürmung des Kapitols in Washington überholt worden sind.

„Je suis Karl“erzählt von rechter Verführung­skraft in Form einer Liebesgesc­hichte, die dank der fabelhafte­n Luna Wedler und einem über sich hinaus wachsenden Jannis Niewöhner alles Exemplaris­che abwirft. Spannend, mit analytisch­er Schärfe und erschrecke­nder Plausibili­tät wird hier das Szenario einer persönlich­en wie gesellscha­ftlichen Machtergre­ifung entworfen – ein unüberhörb­arer Weckruf und der wichtigste deutsche Film in diesem Kinojahr.

Je suis Karl, Deutschlan­d 2021 – Regie: Christian Schwochow, mit Jannis Niewöhner, Luna Wedler, Milan Peschel, 126 Minuten

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FOTO: DPA Luna Wedler als Maxi, Jannis Niewöhner (l.) als Karl, Fleur Geffrier (r.) als Odile Leconte und Milan Peschel (vorn) als Alex.

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