Rheinische Post Krefeld Kempen
Nahaufnahme des Menschen Schumacher
Die neue Netflix-Dokumentation zeigt die Formel-1-Legende aus neuen Blickwinkeln – emotional, überraschend und schonungslos.
DÜSSELDORF Michael Schumacher ist eine Legende. Der Weg zu sieben Formel-1-Weltmeisterschaften wurde oft beschrieben und dokumentiert. Was also soll eine weitere Dokumentation über den Rennfahrer noch Neues zeigen? Vielleicht, wie sich sein Leben seit dem schweren Skiunfall am 29. Dezember 2013 gestaltet. Wer gehofft hat, nach der Netflix-Doku „Schumacher“zu wissen, wie es dem Idol vieler Menschen heute geht, der wird in gewisser Weise enttäuscht.
Die Familie schützt das Privatleben auch in dieser Produktion. Es gibt keine aktuellen Bilder des Rekordweltmeisters. Und doch gewährt sie Einblicke in den heutigen Alltag von Michael Schumacher, lässt zwischen den Zeilen erkennen, wie es ihm geht. Corinna Schumacher berichtet emotional, welch großes Pech der Skiunfall in Méribel war. Schumacher fuhr mit Helm, schlug aber so heftig gegen einen Fels, dass er lange in Lebensgefahr schwebte und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitt. „Jeder vermisst Michael. Aber Michael ist ja da, anders, aber er ist da. Wir sind zu Hause zusammen, leben zusammen und tun alles, damit es ihm besser und gut geht“, sagt Corinna Schumacher sichtlich bewegt. Dazu zeigt die Dokumentation der Produzenten Vanessa Nöcker und Benjamin Seikel Familienfotos und -videos. Michael und Corinna Schumacher in inniger Umarmung, auf dem Reitplatz,
die Familie am Strand, Michael Schumacher mit den Kindern auf der Kutsche, mit Mick am Kart.
Bilder, die er während seiner Karriere aus der Öffentlichkeit herausgehalten hatte. „Wir leben so weiter, wie er es gerne hatte. Privat bleibt privat. Jetzt beschützen wir Michael“, sagt Corinna Schumacher. Den Zuschauern gewähren sie in diesem Film aber einen neuen Einblick in das Familienleben. Während Tochter Gina beschreibt, wie sie den ersten Besuch bei einem Rennen empfunden hat, sagt Mick Schumacher, inzwischen selbst Formel-1-Fahrer: „Ich glaube, dass Papa und ich uns in einer anderen Weise verstehen würden, jetzt. Einfach weil wir in einer ähnlichen Sprache sprechen. In dieser Motorsportsprache. Ich würde alles aufgeben, nur für das.“
Das alles beschränkt sich auf die letzten 20 Minuten des Films, der insgesamt 112 Minuten dauert. In der übrigen Zeit verweben die Produzenten biografische Elemente, Schilderungen über den Menschen und Rennfahrer Schumacher und überraschende Geschichten hinter dem Sport mit Bildern aus der Formel 1, Rennkommentaren und Interviews von Michael Schumacher.
So wirkt es, als würde er extra für diese Dokumentation sein Erleben des tödlichen Unfalls von Ayrton Senna schildern. Der erste Gänsehautmoment in der Dokumentation. Es folgen weitere: der erste WM-Titel, die Rückschläge mit Ferrari, der bei einer Pressekonferenz in Tränen aufgelöste Schumacher,
der Triumph 2000 mit Ferrari. Es sind aber nicht die sportlichen Erfolge, die im Vordergrund stehen. Von den Bildern von Schumachers erstem Formel-1-Sieg 1992 in Spa schwenkt der Film zu Schumachers
Eltern, seinem mühsamen Werdegang vom Go-Kart in die Königsklasse des Motorsports. Und schon da legt die Dokumentation den Fokus auf einen Aspekt, der für den weiteren Verlauf entscheidend wird:
Schumachers absoluter Wille, immer das Beste herauzuholen, mehr als alle anderen.
Der Film zeigt Szenen aus Kindheit und Jugend. Später lange Passagen von Rennen – mal von Siegen, mal von Rückschlägen, Crashs und Niederlagen, Einblick in die nächtliche Arbeit mit den Mechanikern im Zelt. Das alles haben viele Menschen natürlich schon längst gesehen, live und in ungezählten Wiederholungen. Doch den Filmemachern gelingt es mit einer besonderen musikalischen Untermalung, mal mit ruhiger Klaviermusik, mal mit Streichinstrumenten oder einem ganzen Orchester, die Emotionen zu spiegeln, zu verstärken, neu aufleben zu lassen. Der englische Originalkommentar zu den Rennen, der dosiert, aber gezielt eingesetzt wird, tut sein Übriges. Und so erwischt man sich dabei, beim WMentscheidenden Crash mit Jacques
Villeneuve wie einst 1997 auf dem Sofa die Hände über dem Kopf zusammen zu schlagen, oder beim Duell mit Mika Häkkinen 1998 „Nein!“zu rufen.
Die eigentliche Leistung der Dokumentation ist aber nicht die, Schumachers Erfolge noch einmal erleben zu lassen. Sie schafft es, dass die Zuschauer dem Menschen Michael Schumacher aus einem neuen Blickwinkel nahekommen. Und zwar mit seinen Fehlern. Der Film driftet zu keiner Zeit ins Rührselige ab, glorifiziert den Rennfahrer Schumacher nicht. Differenziert zwischen dem knallharten Sportler und dem privaten Familienvater, Kollegen und Freund.
Das gelingt, weil auch Weggefährten wie Damon Hill, Mika Häkkinen, David Coulthard oder Mark Webber zu Wort kommen. Teils erbitterte Konkurrenten auf der Strecke. Sie schildern, wie sie Michael Schumacher erlebt haben. Da kommen unweigerlich Züge und Szenen zur Sprache, die Fans nicht gänzlich unbekannt sind, die aber schonungslos thematisiert werden. Schumachers scheinbar unbändiger Ehrgeiz, mit dem er die Konkurrenten auch mal von der Strecke gedrängt hat. Der unnahbare, misstrauische, uneinsichtige Schumacher. Der frühere McLaren-Pilot David Coulthard berichtet von einem Streit nach einem Crash: „Ich habe gesagt: ;Michael, du liegst doch sicher auch mal falsch.' Seine Antwort: ‚Nicht, dass ich mich daran erinnern würde.'“
Der Einblick in das Familienleben nach dem schweren Unfall ist der Bonus in dieser Dokumentation, die nicht nur für Formel-1-Fans sehenswert ist.