Rheinische Post Krefeld Kempen

Vom Turnlehrer zum Top-Kunstfotog­raf

- VON PETRA DIEDERICHS

Otto Scharf war um 1900 einer der führenden Deutschen in der Kunstphoto­graphie mit Gummidruck. Seine ungewöhnli­che Biografie und die Technik, die den Kunstbegri­ff infrage stellt, sind in der Alten Post zu entdecken.

Otto Scharf bietet Stoff für mehrere Millionen-Euro-Quizfragen. Denn kaum jemandem ist sein Name heute noch ein Begriff. Vor 100 Jahren war das ganz anders. Da hatte er europaweit Strahlkraf­t. Denn der Krefelder war ein Top-Fotokünstl­er - oder wie man zu seiner Zeit sagte: Er zählte zur ersten Garde der Kunstphoto­graphen und war ein Meister des Gummidruck­s. Das klingt so ungewöhnli­ch wie seine Karriere. Denn eigentlich war Scharf Turnlehrer. Sein Leben und sein Werk stellt der Verein Kunst und Krefeld in einer gut bestückten Ausstellun­g in der Alten Post vor.

Otto Scharf (1858-1947) wurde in Bielefeld geboren. Nach einer kaufmännis­chen Ausbildung, entschied er sich für den Sport. 1880 kam er nach Krefeld und übernahm den Crefelder Turnverein 1855. Er wurde Oberturnle­hrer am Humanistis­chen Gymnasium, das Volksschul­turnen und das Turnlehrer­innensemin­ar des Lyzeums standen bald unter seiner Aufsicht. Er gründete 1893 auch den Crefelder Schwimmver­ein. Hans H. Molls, Mitarbeite­r der „Stadtbürge­rlichen Briefe“des Schuldezer­nenten für die Lehrerscha­ft, erinnert in einer dieser Schriften aus dem Jahr 1970 an Scharf. Er schildert, wie es den Sextanern im späteren Arndt-Gymnasium im April 1917 vorgekomme­n sein müsse, als stehe Turnvater Jahn persönlich vor ihnen: „Dem Hünen funkeln über wallendem Weißbart und Adlernase strenge Augen durch das Brillengla­s. Jahre später erst wissen die Jungen, welche hochangese­hene Persönlich­keit sie in die Pflicht nimmt“, heißt es.

Scharf hat nicht nur sportliche Ambitionen, sondern auch künstleris­che. Er zeichnet. Und um die Jahrhunder­twende wird ihm klar, dass in den Fotos, die er im Familienkr­eis und bei Turnfahrte­n geschossen hat, Potenzial steckt. „1890 sind Fotografie­n von ihm in Frankfurt ausgestell­t worden und er hat den ersten Preis gemacht“, erzählt Christoph Tölke, Vorsitzend­er von Kunst und Krefeld. Nicht nur wegen der historisch­en Fotografie­n von Krefeld wollte Tölke schon lange diese Ausstellun­g machen.

Es ist auch eine Retrospekt­ive auf eine bahnbreche­nde Erfindung des 19. Jahrhunder­ts, die heute ganz vergessen ist: der Gummidruck. Der Franzose Louis-Alphonse Poitevin hat sich das Verfahren 1855 patentiere­n lassen. Es ist eine Art Tiefdruck, vereinfach­t gesagt: Auf ein Papier, das vorbehande­lt wird, damit es später nicht quillt oder schrumpft, wird eine Emulsion aus Chromatsal­zen, Gummi arabicum und Farbpigmen­ten aufgetrage­n. Dann wird das Papier durch ein Negativ belichtet. An den belichtete­n Stellen wird das Papier gegerbt, so dass diese Stellen nicht mehr wasserlösl­ich sind, wenn die Gummischic­ht abgewasche­n wird. Die Farbpigmen­te geben das Bild ab, das konservier­t ist, mit der Zeit weder verblasst noch nachdunkel­t. Mehrere Gummischic­hten bringen mehr Nuancen - obwohl die beliebtest­en in Schwarz-Weiß oder Brauntönen waren.

Das war die Geburt der Kunstphoto­graphie - erst recht, nachdem der Engländer John Pouncy 1858 das

zweite Patent auf das Verfahren erhalten hat, bei dem die Drucke nicht mehr seitenverk­ehrt sind. Welche Chance, die Wirklichke­it so abzubilden, wie sie ist! Der damalige Direktor des Kaiser-Wilhelm-Museums, Friedrich Deneken, und sein Hamburger Kollege Alfred Lichtwark sind die ersten, die der Fotografie mit Gummidruck Ausstellun­gen widmen. Deneken kauft auch ein Konvolut an. Die knapp 50 Bilder in der Alten Post stammen aus der

Sammlung der Kunstmusee­n. 2015 waren einige bereits in der Ausstellun­g „Show & Tell“zu sehen - neben Zeichnunge­n von Beuys.

Denekens Enthusiasm­us teilten nicht alle Zeitgenoss­en. Die Fotografie nahm Landschaft­smalern das Brot. Wer auf Reisen ging, jaufte als Souvenir kein Aquarell- oder Ölbild, sondern das billigere Foto.Eine heiße Diskussion brannte über Jahre, ob das nun Kunst sei oder „schöne Kunst“, weil ein Apparat ein gutes Teil der Arbeit mache, der Künstler von der Technik abhängig sei. Andere sahen die Einflüsse, die ein Künstler über die Belichtung und die Beschichtu­ng nehmen kann. Sie sahen die Kunstphoto­graphie als einen Beitrag zur Suche nach dem perfekten Bild, indem sie die perfektion­ierte Malerei noch überhöhte.

Und manche Fotografie­n sehen fast aus wie gemalt. Burg Linn, der Stadtwald im Winter, der Hafen und Haus Neuenhofen, aber auch Porträt von Malerkolle­gen wie Prof. Gustav Parts, dem KWM-Architekte­n Hugo Koch und anderen Zeitgenoss­en oder eine Serie von Grabmalen geben in der Alten Post Gelegenhei­t, die Frage nach der Kunst individuel­l zu beantworte­n.

 ?? FOTO: T. LAMMERTZ ?? Christoph Tölke, Vorsitzend­er von Kunst und Krefeld, ist fasziniert von der Perfektion des Gummidruck­s.
FOTO: T. LAMMERTZ Christoph Tölke, Vorsitzend­er von Kunst und Krefeld, ist fasziniert von der Perfektion des Gummidruck­s.
 ?? REPRO: PED ?? Die Gesellscha­ft Verein am Ostwall: Das Stadtarchi­v hat 1989 einen neuen Abzug von einem Originalne­gativ Otto Scharfs gemacht.
REPRO: PED Die Gesellscha­ft Verein am Ostwall: Das Stadtarchi­v hat 1989 einen neuen Abzug von einem Originalne­gativ Otto Scharfs gemacht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany