Rheinische Post Krefeld Kempen
Vom Turnlehrer zum Top-Kunstfotograf
Otto Scharf war um 1900 einer der führenden Deutschen in der Kunstphotographie mit Gummidruck. Seine ungewöhnliche Biografie und die Technik, die den Kunstbegriff infrage stellt, sind in der Alten Post zu entdecken.
Otto Scharf bietet Stoff für mehrere Millionen-Euro-Quizfragen. Denn kaum jemandem ist sein Name heute noch ein Begriff. Vor 100 Jahren war das ganz anders. Da hatte er europaweit Strahlkraft. Denn der Krefelder war ein Top-Fotokünstler - oder wie man zu seiner Zeit sagte: Er zählte zur ersten Garde der Kunstphotographen und war ein Meister des Gummidrucks. Das klingt so ungewöhnlich wie seine Karriere. Denn eigentlich war Scharf Turnlehrer. Sein Leben und sein Werk stellt der Verein Kunst und Krefeld in einer gut bestückten Ausstellung in der Alten Post vor.
Otto Scharf (1858-1947) wurde in Bielefeld geboren. Nach einer kaufmännischen Ausbildung, entschied er sich für den Sport. 1880 kam er nach Krefeld und übernahm den Crefelder Turnverein 1855. Er wurde Oberturnlehrer am Humanistischen Gymnasium, das Volksschulturnen und das Turnlehrerinnenseminar des Lyzeums standen bald unter seiner Aufsicht. Er gründete 1893 auch den Crefelder Schwimmverein. Hans H. Molls, Mitarbeiter der „Stadtbürgerlichen Briefe“des Schuldezernenten für die Lehrerschaft, erinnert in einer dieser Schriften aus dem Jahr 1970 an Scharf. Er schildert, wie es den Sextanern im späteren Arndt-Gymnasium im April 1917 vorgekommen sein müsse, als stehe Turnvater Jahn persönlich vor ihnen: „Dem Hünen funkeln über wallendem Weißbart und Adlernase strenge Augen durch das Brillenglas. Jahre später erst wissen die Jungen, welche hochangesehene Persönlichkeit sie in die Pflicht nimmt“, heißt es.
Scharf hat nicht nur sportliche Ambitionen, sondern auch künstlerische. Er zeichnet. Und um die Jahrhundertwende wird ihm klar, dass in den Fotos, die er im Familienkreis und bei Turnfahrten geschossen hat, Potenzial steckt. „1890 sind Fotografien von ihm in Frankfurt ausgestellt worden und er hat den ersten Preis gemacht“, erzählt Christoph Tölke, Vorsitzender von Kunst und Krefeld. Nicht nur wegen der historischen Fotografien von Krefeld wollte Tölke schon lange diese Ausstellung machen.
Es ist auch eine Retrospektive auf eine bahnbrechende Erfindung des 19. Jahrhunderts, die heute ganz vergessen ist: der Gummidruck. Der Franzose Louis-Alphonse Poitevin hat sich das Verfahren 1855 patentieren lassen. Es ist eine Art Tiefdruck, vereinfacht gesagt: Auf ein Papier, das vorbehandelt wird, damit es später nicht quillt oder schrumpft, wird eine Emulsion aus Chromatsalzen, Gummi arabicum und Farbpigmenten aufgetragen. Dann wird das Papier durch ein Negativ belichtet. An den belichteten Stellen wird das Papier gegerbt, so dass diese Stellen nicht mehr wasserlöslich sind, wenn die Gummischicht abgewaschen wird. Die Farbpigmente geben das Bild ab, das konserviert ist, mit der Zeit weder verblasst noch nachdunkelt. Mehrere Gummischichten bringen mehr Nuancen - obwohl die beliebtesten in Schwarz-Weiß oder Brauntönen waren.
Das war die Geburt der Kunstphotographie - erst recht, nachdem der Engländer John Pouncy 1858 das
zweite Patent auf das Verfahren erhalten hat, bei dem die Drucke nicht mehr seitenverkehrt sind. Welche Chance, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie ist! Der damalige Direktor des Kaiser-Wilhelm-Museums, Friedrich Deneken, und sein Hamburger Kollege Alfred Lichtwark sind die ersten, die der Fotografie mit Gummidruck Ausstellungen widmen. Deneken kauft auch ein Konvolut an. Die knapp 50 Bilder in der Alten Post stammen aus der
Sammlung der Kunstmuseen. 2015 waren einige bereits in der Ausstellung „Show & Tell“zu sehen - neben Zeichnungen von Beuys.
Denekens Enthusiasmus teilten nicht alle Zeitgenossen. Die Fotografie nahm Landschaftsmalern das Brot. Wer auf Reisen ging, jaufte als Souvenir kein Aquarell- oder Ölbild, sondern das billigere Foto.Eine heiße Diskussion brannte über Jahre, ob das nun Kunst sei oder „schöne Kunst“, weil ein Apparat ein gutes Teil der Arbeit mache, der Künstler von der Technik abhängig sei. Andere sahen die Einflüsse, die ein Künstler über die Belichtung und die Beschichtung nehmen kann. Sie sahen die Kunstphotographie als einen Beitrag zur Suche nach dem perfekten Bild, indem sie die perfektionierte Malerei noch überhöhte.
Und manche Fotografien sehen fast aus wie gemalt. Burg Linn, der Stadtwald im Winter, der Hafen und Haus Neuenhofen, aber auch Porträt von Malerkollegen wie Prof. Gustav Parts, dem KWM-Architekten Hugo Koch und anderen Zeitgenossen oder eine Serie von Grabmalen geben in der Alten Post Gelegenheit, die Frage nach der Kunst individuell zu beantworten.