Rheinische Post Krefeld Kempen
So verrückt ist die echte Welt
Glorreiche Premiere: Dürrenmatts „Die Physiker“bleiben in der Regie von Robert Gerloff eine schaurige Komöde unserer Zeit.
DÜSSELDORF Wer Dürrenmatts „Physiker“– diese von ungezählten AbiJahrgängen durchgenudelte Komödie – noch auf die Bühne bringt, muss schon etwas Besonderes im Schilde führen. Und so darf sich zu Beginn erst einmal Lila-Zoé Krauß am Synthesizer effektvoll austoben, während auf drei hohe Podesten kurze Spots projiziert werden. Unter anderem sind Kaninchen in Laborkäfigen zu erleben. So grell dieses Intro auch ist, es ist keine billige Anbiederei an vermeintlich Zeitgenössisches, also sehr oft multimediales Kurzweiltheater.
Der Prolog führt ein Stück ein, das mittlerweile 60 Jahre auf dem Buckel hat und mit seinem Kassandraruf zu den Gefahren wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Verdacht geraten könnte, Theater wieder zu einer moralischen Anstalt machen zu wollen. Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) hat solchen Rezeptionsfallen vorgebaut, indem er das Brisante kurzerhand zur Komödie machte und programmatisch erklärte, dass ein Drama über die Physiker paradox sein müsse und nur im Paradoxen die Wirklichkeit erscheine.
Und darum geht's: In einer von Dürrenmatt so bezeichneten „Irrenanstalt“leben drei scheinbar Geistesgestörte: Der eine hält sich für Newton, der andere für Einstein, der dritte schließlich ist der (tatsächlich fiktive) Physiker Möbius, der im Besitz der Weltformel ist und diese wie auch sich selbst zum Schutz für alle Welt versteckt hält. Alle drei bringen zur Wahrung ihrer eigenen Geheimnisse das betreffende, in Kampfsportarten auffallend bewährte Pflegepersonal um die Ecke, und die Gründe dafür sind mannigfaltig. Hinter Einstein und Newton stecken nämlich die Geheimdienstler Eisler und Kilton, die sich im Auftrag ihrer Länder an Möbius ranzumachen versuchen. Und doch haben am dicken Ende alle Drei die Rechnung ohne die Chefin des irren Hauses gemacht: ohne Doktor Mathilde von Zahnd. Sie hat die Agenten längst durchschaut, die Weltformel kopiert und mit ihr einen Weltkonzern begründet. Wobei Mathilde von Zahnd schon so unheilvoll klingt wie Dürrenmatts Claire Zachanassian. So endet die Komödie mit einer Art Heimsuchung der alten Dame.
Vor sechs Jahrzehnten war das Stück natürlich brandaktuell. Die atomare Bedrohung beherrschte die Menschen in Ost und West. Das Zerstörungspotenzial der Wissenschaften erschien grenzenlos. 2021 sind wir da schon ein paar Schritte weiter und quasi in ein Stadium der Vor-Apokalypse eingetreten. Eine Rettung des klimakollabierenden Planeten scheint von Jahr zu Jahr unwirklicher zu werden; die Hoffnung richtet sich allein auf mildernde Umstände.
Sind die „Physiker“also von der Gegenwart überholt und zum Zeitstück
verkommen? Regisseur Robert Gerloff gelingt es sogar mit einer werktreuen Fassung ohne Gentechnikund KI-Verweise dieser Farce das Grauen zu bewahren. Auf steriler Bühne mit den drei großen Projektionsblöcken agieren die Schauspieler in weißer Kleidung, das Licht kommt ausschließlich von oben und der Seite, die Film- und Bildsequenzen begleiten wie Subtexte das Geschehen und der digitale Sound mit sphärischen Gesängen liefert dazu den notorisch fatalen Sirenengesang.
Das ist kein allzu dankbares Setting für Schauspieler. Das überschaubare Ensemble muss sich – zum Teil in Doppelrollen – den Raum erst erobern. Dann aber spielt es nach Herzenslust. Claudia Hübbecker reklamiert souverän und hochmütig Irrenhaus und Bühne für sich; Cathleen Baumann und Rainer Philippi karikieren Einstein und Newton authentisch hingebungsvoll, Thiemo Schwarz nimmt man den Pfleger-Grobian und derangierten Kriminalinspektor (sorry) glaubhaft ab, Fnot Taddese wird als Krankenschwester Monika zum bedauernswerten Mordopfer, und Kilian Ponert ist so schlaksig, naiv und dennoch haltungsstark, wie ihn sich vielleicht auch Dürrenmatt gewünscht hätte.
Die Anstalt der Irren kommt nie zur Ruhe, und die Frage bleibt zurecht ungeklärt, wer eigentlich die Verwirrten sind. Dazu gehören dann auch Slapsticks mit zunehmender Wirkung. Wenn etwa der Anstaltsname „Les Cerisiers“immer nur flüsternd zum Publikum gesprochen wird, als werde mit ihm ein Geheimnis verraten. Der Name wird so zum Ominösen. Es ist zudem das kleine Wasserzeichen von Robert Gerloff, der schon bei der Eröffnungspremiere in der Uraufführung des WilliFährmann-Stücks an diesem Stilmittel Gefallen fand.
Und sonst? Unterhaltsam war's, lustig mitunter und mit seiner Geschichte irre und grauenvoll, alles in allem. Wir müssen „Die Physiker“nicht neu entdecken, nicht neu erfinden oder mit Gegenwart aufpumpen. Das Spiel mit der Welt reicht, uns gehörig zu befremden. Gut zu sehen. Und guter Stoff für die nächsten Abi-Jahrgänge. Lehrer, so steht es im Programmheft, können sich gerne an den Theaterpädagogen Thiemo Hackel wenden.