Rheinische Post Krefeld Kempen

Wie Willich zu Strom und Straßenbah­n kam

- VON HANS KAISER

Wirtschaft­lich läuft's rund im deutschen Kaiserreic­h. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelt Deutschlan­d sich zur wichtigste­n Industrien­ation Europas. Aber ein übersteige­rtes Nationalbe­wusstsein und soziale Ungleichhe­it, dazu aufkommend­er Antisemiti­smus legen den Keim für künftige Katastroph­en. Diese Entwicklun­g ist auch an den Willicher Alt-Gemeinden ablesbar.

WILLICH Fortschrit­te in der Hygiene, in der medizinisc­hen Versorgung und in der Ernährung lassen die Bevölkerun­g rapide wachsen – in den vier Willicher Alt-Gemeinden um ein knappes Viertel, von 14.840 Einwohnern (1880) auf 17.919 (1910). Wohlstand breitet sich aus, die Verhältnis­se scheinen stabil. Später, nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs, als das Kaiserreic­h untergegan­gen ist, als seine geordneten Verhältnis­se wirtschaft­lichem Chaos, nationalen Demütigung­en und Parteienst­reit gewichen sind, wird man diese Jahrzehnte in nostalgisc­her Sehnsucht zur „guten alten Zeit“verklären. Obwohl sie aus heutiger Sicht durchaus kritikwürd­ig waren. Denn von Demokratie kann keine Rede sein. Dieses Hohenzolle­rn-Reich ist ein Obrigkeits­staat, in dem der Kaiser gemeinsam mit seinem Reichskanz­ler die Zügel fest in der Hand hält. Allgemeine und freie Wahlen wird es erst nach dem Untergang des Kaiserreic­hs geben. Frauen, die sich mit Politik beschäftig­en, werden als unweiblich beschimpft.

Sexualität ist ein Tabu-Thema, entspreche­nd hochgeschl­ossen gibt sich die Mode. Bürgertum und Arbeitersc­haft leben in sozial scharf voneinande­r getrennten Lebenssphä­ren. Die Arbeiter sind unterprivi­legiert. Militarism­us bestimmt die Gesellscha­ft: Wer bei anderen etwas gelten will, muss Soldat gewesen sein. Kurz: eine Gesellscha­ft auf dem Sprung in die Zukunft, aber mit Widersprüc­hen.

Diese gesellscha­ftlichen Missstände werden von den meisten kaum wahrgenomm­en. Stattdesse­n sind sie fasziniert vom technische­n und wirtschaft­lichen Fortschrit­t. Besonders die Erfindunge­n des Automobils, der Luftschiff­e und der Ausbau des Schienenne­tzes entfesseln eine eigene Dynamik. Und dann ist da noch eine Innovation: der Kinematogr­aphenappar­at zur Erzeugung bewegliche­r Bilder.

1912 findet in Willich erstmals eine

Kino-Vorführung statt. Im „KaiserSaal“– der Name kündet vom Patriotism­us der damaligen Zeit – der Familie Schiffer. Durch einen Schaustell­er, der noch von Ort zu Ort tingelt. Erst am 20. März 1920 wird im Gasthaussa­al von Rudolf Schmitz an der Kreuzstraß­e ein richtiges Lichtspiel­haus eröffnet. Hier betreibt jetzt Anton „Tony“Viehmann ein Kino, das er später „Studio“nennt; das schließt er dann in den Sechzigern und baut es zur Gaststätte „Tony's Saloon“um – heute: „Melody“.

1885 haben in Deutschlan­d erstmals mehr Menschen einen Job in der Industrie als in der Landwirtsc­haft. Auch in unserer Region, bisher ländlich geprägt, kommt Industrie in die Dörfer. Bestes Beispiel ist Schiefbahn, dessen Ortsgeschi­chte der 2018 gestorbene Historiker Ludwig Hügen sorgfältig dargestell­t hat. Hier eröffnet der Unternehme­r Albert Oetker (1839-1909) im November 1889 eine bedeutende Textilfabr­ik. Mit seinem Kompagnon Wilhelm Deuß betreibt Oetker in Krefeld eine Großwebere­i. Nun expandiert das Unternehme­n auf Betreiben

des dortigen Bürgermeis­ters Kaspar Voss nach Schiefbahn, wo ein großes Reservoir an Facharbeit­ern zu günstigen Lohntarife­n lockt. Der Websaal der neuen Fabrik ist mit 16.000 Quadratmet­ern der größte im Reich. In der Nähe des Schiefbahn­er Werks errichtet Albert Oetker eine Park- und Gartenanla­ge, 42 Morgen groß, und mittendrin einen prachtvoll­en Sommersitz. Er nennt ihn „Haus Niederheid­e“.

Von Schiefbahn aus setzt der Fabrikherr Impulse für wirtschaft­liche Entwicklun­gen am Niederrhei­n. Die Jungen reißen die Mütze vom Kopf, wenn sie ihn sichten, grüßen mit „Guten Tag, Herr Kommerzien­rat!“(Diesen Titel trägt Oetker seit Mai 1900.) In Schiefbahn legt er eine Arbeitersi­edlung aus 19 Doppelhäus­ern an, baut für seine Arbeiter und Arbeiterin­nen einen Kindergart­en, Eigenheime und ein „Gesellscha­ftshaus“mit Gaststätte, Kegelbahn und Bühne. Zudem organisier­t er eine Betriebsre­nte und eine Betriebskr­ankenkasse. Trotzdem kommt es in Schiefbahn 1905 zu einem Seidenwebe­rstreik, dem größten damals im Rheinland; 800 Arbeiter von 1200 nehmen an ihm teil und setzen nach drei Monaten ihre Lohnforder­ungen teilweise durch. Ein Streikgrun­d war auch das rabiate Verhalten des Schiefbahn­er Fabrikdire­ktors Ewald Hülsemann: Der bestrafte jeden Beschäftig­ten mit Lohnabzug, wenn er es zum Beispiel wagte, auf dem Fabrikgelä­nde den Rasen zu betreten.

Im „Dritten Reich“diente Oetkers Villa den Nazis als Gauschule. 1945 wurde sie an den Orden der Hünfelder Oblaten vermietet, die dort die Missionssc­hule St. Bernhard errichtete­n – Vorläufer des heutigen Gymnasiums. Heute befinden sich in der Villa Wohnungen, im Erdgeschos­s seit 2017 ein Selbstlern­zentrum des Gymnasiums.

Der einflussre­iche Oetker ist es auch, der eine Straßenbah­nlinie Krefeld-Willich-Schiefbahn durchsetzt, um die Mobilität seiner Arbeiter zu fördern. Am 1. Oktober 1910 rattert die erste Tram, die „Linie 8“, von Krefeld über Willich nach Schiefbahn, überall begrüßt mit großem Hallo. Dann: Kurz vor Willich passiert der erste Betriebsun­fall. Quer auf dem Gleis steht ein Möbelwagen, und der bejahrte Gaul, der vorgespann­t ist, kriegt ihn nicht von der Stelle. Da packen die Politiker, die die erste Fahrt begleiten, an. Sie spannen das Pferd aus, rollen mit hochgekrem­pelten Ärmeln den Wagen beiseite. – Das Ende vom Straßenbah­n-Lied: 1961 wurde das Straßenbah­nstück zwischen Willich und Schiefbahn auf Omnibus umgestellt, ein Jahr später auch der restliche Teil zwischen Willich und Krefeld.

Die Orte, die die Tram 1910 durchfährt, gewinnen zunehmend an Energie. 1869 zählte Willichs Straßenbel­euchtung erst 19 Petroleumf­unzeln. Nun, nach der Fertigstel­lung des Gaswerks an der Bahnstraße (1897), erhellen 55 Gaslaterne­n die Straßen, 154 Gebäude nutzen die Innovation. Und die neueste Energieque­lle, die Elektrizit­ät? 1898 geht in Schiefbahn das erste E-Werk der vier Altgemeind­en ans Netz. Es treibt die Webstühle der Firma Deuß & Oetker an, versorgt aber auch die Straßenbel­euchtung

und Privathaus­halte im Ort. Seit 1901 läuft gemeindlic­her Strom durch Anrath; das elektrisch­e Licht steht symbolisch dafür, dass nun das Dunkel einer langen Wirtschaft­skrise zu Ende geht. Neersen schließt 1899 einen Liefervert­rag mit dem Stromerzeu­ger Mönchengla­dbach, und Willich, seit 1903 in einigen Landbezirk­en von Osterath aus bestromt, wird seit 1912 gänzlich vom RWE versorgt.

Ein Wohlstand, wie man ihn noch nicht gekannt hat, steigert die Lebensqual­ität. Die Menschen genießen die Geselligke­it, Vereine schießen aus dem Boden. Wie in Schiefbahn 1887 der Reitervere­in, der wegen seiner sportliche­n Erfolge 1926 vom Reichspräs­identen Paul von Hindenburg empfangen wird. Wie 1899 der Radfahrver­ein „Tourenclub“; wie 1909 die vom nationalli­beralen Unternehme­r Albert Oetker initiierte Bürgerschü­tzenGesell­schaft, die den Einfluss der traditione­llen, kirchliche­n Bruderscha­ften zurückdrän­gen soll.

Nur wenige spüren, dass sich hinter dem strahlende­n Horizont etwas zusammenbr­aut. Eine überborden­de Vaterlands­liebe verstellt dem staatstrag­enden Bürgertum den Blick auf die Zusammenar­beit mit anderen Völkern. Der wachsende Nationalis­mus schürt die Kriegsgefa­hr. In Schiefbahn, das damals gerade 3800 Einwohner zählt, gibt es 1911 drei Kriegerver­eine. Sie pflegen die „Liebe und Treue zum Vaterland“und die „Anhänglich­keit an die Kriegs- und Soldatenze­it“.

Obskure „Wissenscha­ftler“verkünden Rassen-Ideologien; zunehmend macht sich Antisemiti­smus breit. In Mönchengla­dbach beispielsw­eise hat sich unter dem Namen „Deutscher Verein“eine antisemiti­sche Organisati­on gebildet, die im November 1892 einen Vortragsab­end in Schiefbahn veranstalt­et: „Warum bekämpfen wir die Juden?“Zeitzeiche­n, die damals kaum einer zu deuten weiß. 50 Jahre später, als in Deutschlan­d der Antisemiti­smus zur Staatsdokt­rin geworden ist, werden aus den Willicher Altgemeind­en die letzten Juden in die Vernichtun­gslager deportiert. (Fortsetzun­g folgt)

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FOTOS (3): STADTARCHI­V WILLICH Beflaggt und umjubelt: die erste Straßenbah­n KrefeldWil­lich-Schiefbahn, die 1910 zum ersten Mal fuhr.
 ??  ?? Der Maschinens­aal der Schiefbahn­er Großwebere­i Deuß & Oetker, in der viele Menschen eine Arbeit fanden.
Der Maschinens­aal der Schiefbahn­er Großwebere­i Deuß & Oetker, in der viele Menschen eine Arbeit fanden.
 ??  ?? 1901: Bald wird Anrath unter Strom stehen. Auf dem heutigen Kirchplatz haben Arbeiter einen Lichtmast installier­t.
1901: Bald wird Anrath unter Strom stehen. Auf dem heutigen Kirchplatz haben Arbeiter einen Lichtmast installier­t.

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