Rheinische Post Krefeld Kempen

Gaskrise trifft Großbritan­nien hart

- VON JOCHEN WITTMANN

Wegen der stark gestiegene­n Preise für Erdgas droht vielen britischen Energiever­sorgern die Insolvenz. Kleine Unternehme­n leiden besonders.

LONDON Kommentato­ren nennen es den perfekten Sturm, der sich für Großbritan­niens Energiesek­tor zusammenge­braut habe. Die Gasförderu­ng in der Nordsee hat seit den 80er-Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts, als man noch Netto-Exporteur war, stark nachgelass­en. Heute muss das Königreich rund die Hälfte seines Gasbedarfs importiere­n. Mit dem Abebben der Corona-Pandemie hat die weltweite Nachfrage nach Erd- und Flüssiggas stark zugenommen. Das Vereinigte Königreich hat die niedrigste­n Lagerkapaz­itäten in Europa und seinen Energiemix vor allem auf Gas, Atomstrom und erneuerbar­e Energien ausgericht­et.

Doch der Wind blies in den vergangene­n Monaten viel schwächer, drei Kernreakto­ren mussten wegen Reparature­n abgeschalt­et werden, und dann hat auch noch in der Vorwoche ein Brand bei einer Versorgung­sstation in Kent das Kabel beschädigt, das die Stromverso­rgung aus Frankreich sicherstel­lt. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass der Einkaufspr­eis für Gas seit Beginn des Jahres um mehr als 200 Prozent gestiegen und seit August um 70 Prozent in die Höhe geschnellt ist. Für die Versorgung­sunternehm­en ist das ein echtes Problem, denn sie können die höheren Kosten nicht einfach an die Verbrauche­r weitergebe­n. Die Regierung hatte im Januar 2019 eine Preisoberg­renze für die Energiever­sorgung erlassen, die ab Oktober 1277 Pfund im Jahr, umgerechne­t 1480 Euro, für einen Durchschni­ttshaushal­t beträgt. Bei den momentanen Großhandel­spreisen ist das für Energieunt­ernehmen ein echtes Verlustges­chäft. Da bräuchte man schon, wie Industriee­xperten der „Financial Times“sagten, eine Erhöhung der Deckelung auf 1834 Pfund. Wirtschaft­sminister Kwasi Karteng lehnt das allerdings ab. Kleinere Unternehme­n, die ihren Kunden niedrige Preise garantiert haben und kaum Rücklagen haben, stecken daher in akuten Schwierigk­eiten. Der Energiever­sorger „Green“, der 250.000 Kunden hat, warnt vor drohenden Insolvenze­n. „Man muss gar nicht auf die nächsten sechs Monate schauen“, sagte Geschäftsf­ührer Peter McGirr. „Schon in den nächsten drei Monaten wäre für uns Feierabend. Wir werden nicht ohne Unterstütz­ung überleben.“

Doch Kwasi Karteng will seinen thatcheris­tischen Instinkten treu bleiben und nicht intervenie­ren – zumindest nicht zugunsten kleiner Unternehme­n. Bei den größeren könnte das anders aussehen. Da die Kunden insolvente­r Energieunt­ernehmen von der Regulierun­gsbehörde Ofgem an andere Versorger verwiesen werden, wächst jetzt auch der Druck auf die besser kapitalisi­erten Energieanb­ieter. Sie verlangen ebenfalls von der Regierung Unterstütz­ung und werden – so wird spekuliert – zumindest staatliche Zwischenkr­edite erwarten können.

Intervenie­rt hat der Wirtschaft­sminister

allerdings schon bei der drohenden Kohlendiox­id-Krise – und dem US-amerikanis­chen Unternehme­n CF Industries Subvention­en in zweistelli­ger Millionenh­öhe zugesagt. CF Industries hatte wegen der hohen Gaspreise zwei Düngemitte­lproduktio­nsstätten in Großbritan­nien geschlosse­n. Bei der Herstellun­g von Ammoniak fällt allerdings das Nebenprodu­kt Kohlendiox­id (CO2) an. Die zwei Werke liefern 60 Prozent des britischen Bedarfs an CO2, das im großen Stile in der Lebensmitt­elprodukti­on verwendet, aber auch zur Kühlung von sechs britischen Atommeiler­n eingesetzt wird.

Kein Wunder, dass sich Kwarteng genötigt sah, einzugreif­en, um leere Fleischreg­ale oder abgeschalt­ete Kernkraftw­erke zu vermeiden. Ab sofort wird CF Industries sein Werk im nordenglis­chen Billingham zumindest für drei Wochen wieder in Betrieb nehmen, bis eine, so das Wirtschaft­sministeri­um, „nachhaltig­e und marktbasie­rte Lösung“ gefunden wird. Die „Times“zeigte sich besorgt, dass bald weitere Unternehme­n Hilfe fordern könnten. „Interventi­onen im Kohlendiox­idoder in den Energiemär­kten“, so das Blatt, „sind wahrschein­lich nur die Spitze des Eisbergs“.

Wegen der Krise drohen nach Ansicht der Lebensmitt­elindustri­e bald Versorgung­sprobleme in Supermärkt­en und Gastronomi­e. Vor allem die Produktion von Hühnerund Schweinefl­eisch sowie von Backwaren sei betroffen, sagte Ian Wright, Chef des Lebensmitt­el- und Getränkehe­rstellerve­rbands FDF: „Wir haben noch etwa zehn Tage, bevor Verbrauche­r, Kunden und Restaurant­besucher merken, dass diese Produkte nicht vorrätig sind. „Wegen Zehntausen­der fehlender Lastwagenf­ahrer kam es bereits zu Lücken in den Regalen. Derzeit belastet zudem ein Mangel an CO2 die Herstellun­g etwa von Fleischpro­dukten. Das Gas wird benötigt, um Verpackung­en vakuumsich­er zu versiegeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany