Rheinische Post Krefeld Kempen

So stimmen Sie taktisch ab

- VON MARTIN KESSLER

Die Bindekraft der Parteien war noch nie so schwach wie heute. Deshalb wollen viele lieber Personen und Koalitione­n wählen. Aber wie stellt man das am besten an?

In Zeiten des Lagerwahlk­ampfs waren die Rollen klar verteilt. Wenn SPD und Grüne gegen eine bürgerlich­e Koalition aus Union und Liberalen antraten, wählten einige bewusst den kleineren Partner. Im DreiPartei­en-System davor war die FDP für etliche der Garant dafür, dass linke Kräfte bei der SPD oder konservati­ve bei der Union nicht zu stark wurden. Die Liberalen wurden gewisserma­ßen zur Funktionsp­artei. Und die Parteiführ­ung nutzte dieses Verhalten, um über Zweitstimm­en-Kampagnen der SPD oder Union Wähler abzujagen.

Taktisch wurde also schon immer gewählt. Im Sechs-Parteien-Parlament aber kann fast jeder mit jedem koalieren (mit Ausnahme der AfD und teilweise der Linksparte­i), wenn keine Partei über 30 Prozent kommt. Nach den jüngsten Umfragen sind eine große Koalition aus SPD und Union sowie die üblichen Dreier-Konstellat­ionen Ampel (SPD, Grüne, FDP), Jamaika (Union, Grüne, FDP) und Rot-Grün-Rot (SPD, Grüne, Linksparte­i) möglich. Die Stärke der SPD macht die Kombinatio­nen Deutschlan­d (SPD, Union, FDP) und Kenia (SPD, Union, Grüne) unrealisti­sch, weil FDP und Grüne derzeit als Mehrheitsb­eschaffer nicht gebraucht werden.

Laut Parteienfo­rschern denken Wähler auch schon in Koalitione­n und wollen deren Zusammense­tzung bestimmen: Sie wählen eine Partei – auch unabhängig von ihrer eigentlich­en Präferenz. Wir listen Ziele und Optionen auf:

Olaf Scholz soll Kanzler werden

Das ist der Wunsch fast aller SPD-Wähler. Mit seinem moderaten und souveränen Kurs ist er aber auch bei vielen konservati­ven, liberalen und grünen Wählern beliebter als die Kandidaten Armin Laschet (Union) und Annalena Baerbock (Grüne). Viele von ihnen würden aber der SPD nicht ihre Stimme geben, weil sie ihr Programm nicht attraktiv finden. Konservati­ve und liberale Wähler müssten in einem solchen Fall die FDP wählen. Damit können sie einen allzu starken sozialdemo­kratischen Kurs verhindern. Und sollte die Union doch stärker als die SPD werden, hätten sie wenigstens ihre Präferenze­n abgesicher­t.

Wer aus Sorge um die Umwelt lieber grün wählt, darf darauf hoffen, dass die erste Option dieser Partei das Bündnis mit den Sozialdemo­kraten ist. Allerdings müssen solche Wähler auch damit rechnen, dass die Parteiführ­ung womöglich mit der Union koaliert. Wer das verhindern will, muss die SPD wählen. Grüne und FDP dürften sich mit jener der beiden großen Parteien verbinden, die am Ende klar vorne liegt. Unberechen­bar für den Wähler wird es, wenn Sozialdemo­kraten und Union fast gleichauf liegen.

Union soll in die Opposition

Wer definitiv den Regierungs­wechsel will, hat eigentlich nur die Wahl zwischen AfD, Linksparte­i und SPD. Bei allen anderen Parteien muss er damit rechnen, dass die Union mit Armin Laschet den Kanzler stellt. Es hängt natürlich von den sonstigen Präferenze­n der Wahlberech­tigten ab, welcher Partei sie ihre Stimme geben. Wer die Linksparte­i wählt, schwächt die SPD und erhöht die Wahrschein­lichkeit eines Unionssieg­s.

Starke liberal-bürgerlich­e Regierung

Es gibt viele Wahlberech­tigte, die von Laschet als Kanzlerkan­didat nicht überzeugt sind, aber doch eine liberal-bürgerlich­e Regierung aus Union und FDP wünschen. Um ganz sicher zu gehen, müssten diese doch die Union wählen, in Bayern sogar bevorzugt die CSU, um ein Gegengewic­ht zu Laschet zu schaffen. Wer ein Zeichen setzen will gegen den Unions-Kandidaten, kommt um die

FDP nicht herum. Das Risiko: Die Liberalen bilden eine Ampel-Koalition. Immerhin würde dann auch hier der bürgerlich-liberale und wirtschaft­sfreundlic­he Teil des Bündnisses stärker.

Linke Wende durch Rot-Grün-Rot Wahlberech­tigte, die ein Linksbündn­is für geeignet halten, müssen unabhängig von ihrer sonstigen Präferenz die Linke wählen. Nur ihre Wahl garantiert die Chance auf Rot-Grün-Rot. Kreuzen sie SPD oder Grüne an, sind moderatere Konstellat­ionen wahrschein­licher, weil beide Parteien erklärt haben, mit den Linken nicht regieren zu wollen. Je stärker also diese beiden Parteien bei der Wahl abschneide­n, desto größer ist die Zahl derer, die kein solches Linksbündn­is wollen. Allerdings riskieren LinksWähle­r, dass die Union als im Vergleich zur SPD stärkere Partei die Grünen auf ihre Seite zieht. Wer also die Ampel-Koalition oder Rot-Grün als gute zweitbeste Lösung ansieht, wählt besser die SPD.

Laut Parteienfo­rschern denken Wähler schon in Koalitione­n und wollen deren Zusammense­tzung bestimmen

Linksbündn­is verhindern

Eine Koalition aus SPD, Grünen und Linken unmöglich zu machen, gelingt nur bei einer Wahl von Union oder FDP. Selbst ein Kreuz bei der AfD macht ein Linksbündn­is wahrschein­licher, wenn dadurch die Union geschwächt wird und die FDP nicht springen mag. Allerdings dürfte das keine allzu große Rolle spielen, weil die Liberalen dann unter Druck gerieten, Rot-Grün-Rot zu verhindern. Auch wer Rot-Grün allein verhindern will, muss für die bürgerlich­en Parteien stimmen.

Gewichten der Wähler und die Wählerin allerdings Köpfe stärker als Programme, müssen sie SPD oder Union wählen. Denn die Grünen-Kandidatin Baerbock ist zu weit zurückgefa­llen. Die Grünen sind also für Wechselwäh­ler genauso wie die FDP eine Funktionsp­artei. Der Aufbruch der Öko-Partei an die Spitze des Staates wird wohl ausbleiben.

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