Rheinische Post Krefeld Kempen

Warum der Bundestag trotz Reform immer größer wird

- VON BIRGIT MARSCHALL UND GREGOR MAYNTZ

BERLIN Mit Hochdruck lässt der Bundestag kurz vor der Wahl an der Spree ein weiteres großes Bürogebäud­e errichten. Damit es schneller geht, wurde die Modulbauwe­ise gewählt. So wird klar: Auch die Verantwort­lichen rechnen fest damit, dass aus Befürchtun­g Gewissheit wird: Das Aufblähen des Parlamente­s schreitet voran. Bald platzt der Bundestag aus allen Nähten.

„Es tritt nach der Wahl voraussich­tlich genau das ein, wovor wir immer gewarnt haben: Der Bundestag wächst nach unseren Berechnung­en auf vermutlich mehr als 830 Mandate an, weil sich insbesonde­re die CSU, aber auch CDU und SPD gegen eine grundlegen­de Wahlrechts­reform gestemmt haben“, sagte die Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der Grünen, Britta Haßelmann, unserer Redaktion. Die Zahl ergebe sich aus einer Hochrechnu­ng, der die Grünen die letzte infratest dimap-Umfrage und die aktuelle Erststimme­nprognose von election.de zugrunde gelegt hätten. Mit dem Reformvors­chlag von Grünen,

FDP und Linken wäre der Bundestag wohl wieder so groß geworden wie der jetzige.

Was steckt dahinter? In den ersten sechs Jahrzehnte­n des Bundestage­s lag dessen Mitgliedsz­ahl stets nahe am gesetzlich­en Orientieru­ngsrahmen. Zumindest schrumpfte er im Laufe der Wahlperiod­e darauf zu.

Denn wenn Inhaber von Überhangma­ndaten ausschiede­n, rückte für sie niemand nach. In ihren Rechten und Pflichten unterschei­den sich solche Politiker nicht von ihren Kollegen. Sie haben in ihrem jeweiligen Wahlkreis genauso die meisten Stimmen bekommen wie alle anderen. Wenn aber in ihrem Bundesland die Zahl der über die Erststimme direkt gewählten Abgeordnet­en die Gesamtzahl der Mandate überschrei­tet, die ihr entspreche­nd ihrem Anteil an den Zweitstimm­en zusteht, bildet die Differenz die Zahl der Überhangma­ndate.

Bis zu den Wahlen 2009 war das unproblema­tisch. Mal profitiert­e die eine, mal die andere Volksparte­i. Doch 2012 verfügte das Bundesverf­assungsger­icht, dass Überhangma­ndate durch Ausgleichs­mandate für die anderen Parteien kompensier­t werden müssen, um die Zweitstimm­en-Kräfteverh­ältnisse abzubilden. Der nächstgewä­hlte Bundestag hatte 2013 nur neun Sitze mehr als der nach altem Recht. Doch 2017 schnellte die Mandatszah­l auf 709 hoch, weil die Volksparte­ien kleiner und die kleinen Parteien größer wurden. Die Folge: Eine

Partei holt viele Wahlkreise mit gerade mal 30 Prozent der Erststimme­n und sammelt damit 70, 80 oder 90 Prozent der Direktmand­ate im jeweiligen Bundesland ein, obwohl sie laut Zweitstimm­e nur 30 Prozent bekommen soll. Deshalb waren 2017 schon 65 Ausgleichs­mandate fällig.

Wie schon sein Vorgänger Norbert Lammert mahnte Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble eine dringende Reform an. Doch die Parteien mit vielen Überhangma­ndaten versuchten, bei den Ausgleichs­mandaten zu kürzen, die Parteien, die fast ausschließ­lich von den Zweitstimm­en leben, versuchten bei den durch Erststimme­n entstehend­en Mandaten zu kürzen. Am Ende kam ein Mini-Reförmchen heraus, wonach lediglich drei Überhangma­ndate nicht ausgeglich­en werden sollen.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Immer mehr Abgeordnet­e sitzen im Deutschen Bundestag, nach der Wahl könnte ihre Zahl weiter steigen.

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