Rheinische Post Krefeld Kempen
Tausend Jahre in tausend Schritten
Zeitreise durch eine Kleinstadt im Herzen Deutschlands: Goslar bietet eine Kaiserpfalz und moderne Kunst, romantische Gassen und Weltkultur. Dazu gibt es deftige Genüsse in rustikalem Ambiente und den Harz vor der Haustür.
Eine Stadt wie aus dem Deutschland-Katalog, viel Fachwerk, voller Geschichte und Geschichten. Aber auch eine Stadt für Entdecker, für eine kleine Zeitreise in die Anfänge des deutschen Reichs: spannend, amüsant, zuweilen märchenhaft. Goslars Bedeutung hat im Jahre 968 begonnen, als im nahen Rammelsberg Bodenschätze gefunden wurden – Blei, Zink, Kupfer, Silber und später sogar Gold. Heinrich II. ließ hier im Jahre 1009 eine Pfalz bauen, einen Burgpalast für Könige und Kaiser, die im Mittelalter durchs Land zogen und mal hier, mal dort Hof hielten.
130 Königsbesuche zwischen 1039 und 1253 hatten Goslar und seine Pfalz zum Vorzugsort der Salier und Staufer werden lassen. Gut 1000 Jahre später begann mit einem Heinrich aus England, dem großen Bildhauer Henry Moore, der Aufstieg der kleinen Provinzstadt, zu der Goslar nach dem Ende des Bergbaubooms geschrumpft war, der Aufstieg zu einer Kunstenklave von überregionaler Bedeutung. Engagierte Bürger stifteten einen sogenannten Kaiserring, eine Auszeichnung für Künstler von Weltrang.
Erster Träger war 1975 Henry Moore, seinerzeit der Lieblingsbildhauer von Kanzler Helmut Schmidt. Damit hatten die Goslarer eine Messlatte gesetzt, die sie seither nie unterschritten haben. So trugen zum Beispiel Max Ernst aus Brühl und Josef Beuys aus Krefeld das renommierte Schmuckstück. In diesem Jahr, geplant für den 9. Oktober in der Kaiserpfalz, werden gleich zwei Künstler geehrt: coronabedingt für 2020 erst jetzt der Kölner Konzeptkünstler Hans Haacke, für 2021 die Amerikanerin Adrian Margaret Piper, die in Berlin lebt.
Hier große Kunst und große Geschichte, dort liebenswerte Erinnerung an die Quelle einstigen Wohlstands. Die Glockenklänge des Steigerlieds lassen viermal am Tag (9, 12, 15 und 18 Uhr) vor allem die Touristen zum Giebel der ehemaligen Kämmerei aufschauen. Drei Türchen öffnen sich und ein Figurenumlauf erzählt die Geschichte des Goslarer Bergbaus. Erst 1988 war Schicht im Schacht, aus der Grube wurde ein Museum, vier Jahre später, kurz nach der Wiedervereinigung, kam der Rammelsberg auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes. Goslar rückte damit in den Fokus des Deutschland-Tourismus. Auf der noblen UnescoListe ist das Städtchen und seine Umgebung mittlerweile gleich dreimal vertreten: Neben dem Bergwerk und der Altstadt darf sich seit 2010 auch die Oberharzer Wasserwirtschaft
mit dem Titel schmücken. Im Vorort Hahnenklee sind sogenannte „Wasserregale“zu sehen, die einst Bergbau und Wohlstand der Region erst möglich gemacht haben.
Heute liegt die 50.000-Einwohner-Stadt im Zentrum einer stark wachsenden Region, umgeben von diversen Hochschulen. Studentisches Volk kommt gern in die Fachwerk-Metropole am Harzrand. Lokale wie das „Köpi“am Markt, Musikkneipen wie das „Kö“in der Marktstraße, die gemütliche „Kupferkanne“in der Hokenstraße oder die „Junge Bühne“, die zum Verein Goslarer Music Scene gehört, gehören zu den Hotspots junger Leute.
Der Marktplatz, überragt vom Doppelturm von St.-Cosmas-und-St. Damian, ist Treffpunkt für alle. Dort bringen auch die Guides, bevor sie von hier „In 1000 Schritten durch die Altstadt“führen, ihre Gäste zum Staunen und Schmunzeln. Allein für den holzgeschnitzten Dukatenscheißer am Kaiserworth-Haus haben sie ein halbes Dutzend Versionen parat. Auch die Geschichte von der Butterhanne ist einer ihrer Lieblingsschnacks. Diese derbe Figur einer Magd zeigt an der Fassade des alten Patrizierhauses Brusttuch ihr Hinterteil. Die Stadtführer machen sich einen Reim darauf:
„Mit der linken Hand da buttert sie, die rechte am Gesäß, so macht man hierzuland' den guten Harzer Käs.“
Der stinkt auch heute noch, aber hygienisch ganz korrekt. Und wie in alten Zeiten wird auch das Gose-Bier, benannt nach dem Fluss, der einst der Stadt zum Namen verholfen hat, wieder vor Ort gebraut. Mit diesem obergärigen Urbier lassen sich die Spezialitäten der Region gut herunterspülen. Ziegenkäse gehört dazu, der Harzer Stinker natürlich, auch Hackus, ein würziges Schinkenmett.
An den Markt schließt sich ein Gassenlabyrinth an, durch das man sich treiben lassen und auf Überraschungen gefasst sein sollte. Am prächtigen Haus der Bäckergilde, 444 Jahre alt, mag es nur ein Wappen sein, das Lebkuchen, Brezel und ein Dreitimpenbrot zeigt. Timpen waren früher die Pausenbrote der Bergleute, mit Pflaumenmus, Käse oder Mett bestrichen. Ein paar Schritte weiter aber, in der Schreiberstraße, fällt ein besonders stattlicher Barockbau ins Auge. Er gehört seit 1693 der Familie Siemens und gilt als Keimzelle des gleichnamigen Weltkonzerns.