Rheinische Post Krefeld Kempen

Stil? Voll!

- VON NICOLE QUINT

Görlitz hat die DDR nur knapp überlebt, eine grandiose Hollywood-Karriere hingelegt, Millionen geerbt und steht in dem Ruf, Deutschlan­ds schönste Stadt zu sein.

Nostalgike­r wühlen ja gern in Schubladen mit der Aufschrift „Früher war alles besser“, um sich an Zeiten zu erinnern, in denen man noch in edlen Patrizierh­äusern wohnte statt in solch seelenlose­n Nacktbeton­türmen, wie moderne Architekte­n sie heute bauen. Ein wunderbare­s Mittel gegen solche Melancholi­e-Schübe ist eine Reise nach Görlitz. In Deutschlan­ds östlichste­r Stadt ist auch nicht alles besser, aber doch vieles schöner. Warum sie als städtebaul­iches Gesamtkuns­twerk gepriesen wird, lässt sich schon bei der Ankunft in der imposanten Empfangsha­lle des Jugendstil-Bahnhofs erahnen, der die Messlatte der Erwartunge­n gleich noch ein Stückchen höher legt, und tatsächlic­h – Görlitz ist ganzheitli­ch großartig. Mehr als 4000 Baudenkmäl­er besitzt die Stadt. Besucher können von einer zur anderen Stilepoche spazieren, zu top restaurier­ten Spätgotik-, Renaissanc­e- und Barockhäus­ern in der Altstadt und durch weiträumig­e Jugendstil- und Gründerzei­tviertel samt prächtiger Parkanlage­n, die sich um den Stadtkern legen. Reich verzierte Portale und Fassaden, traumhafte Innenhöfe und Laubengäng­e zeugen davon, dass Görlitz die längste Zeit seiner Geschichte eine der wohlhabend­sten Städte Deutschlan­ds

war, reich geworden durch das kostbare Färbemitte­l Waid, durch Tuchherste­llung und Waggonbau. Im Herzen Europas an einer Kreuzung von zwei Handelsweg­en gelegen, wurde die Stadt zum urbanen Zentrum der Oberlausit­z. „In Görlitz residieren die Bürger ja wie Fürsten in ihren Kaufmannsb­urgen“, soll Goethe bei seinem Besuch bewundernd festgestel­lt haben.

Wenn das klappernde Geräusch von Pferdekuts­chen über das Kopfsteinp­flaster hallt, scheint das historisch­e Zentrum wieder so vornehm und würdevoll wie einst. Zwei Weltkriege hat die Stadt an der Neiße unversehrt überstande­n, doch die Jahrzehnte der Vernachläs­sigung zur DDR-Zeit hätten ihr fast den Garaus gemacht. Der Arbeiter- und Bauernstaa­t ließ die Bauten des Bürgertums absichtlic­h verkommen. An den verfallens­ten Häusern sollen sogar bereits Bohrlöcher für das Anbringen von Sprengladu­ngen vorbereite­t gewesen sein, um Teile der Altstadt in die Luft zu jagen. Doch dann kam die Wende und mit ihr die Auferstehu­ng aus Ruinen. Ein Großteil der denkmalges­chützten Gebäude wurde glanzvoll saniert und die Vielfalt an original erhaltener Bausubstan­z dadurch zum Traum aller Filmproduz­enten und Regisseure. „Inglouriou­s Basterds“, „Grand Budapest Hotel“, „In 80 Tagen um die Welt“und „Der Vorleser“wurden hier unter anderem gedreht, was der Stadt den Beinamen „Görliwood“einbrachte. Sie doubelte zwar immer nur andere Städte, doch ein Ort, an dem man sich wie in Paris, Venedig, New York, Frankfurt oder Straßburg fühlen kann, muss eine echte Weltstadt sein.

Genügend Stoff für großes Kino könnte Görlitz ohnehin selbst liefern, für einen Film mit dem Titel „Der Millionens­pender“zum Beispiel. Von 1995 bis 2016 überwies ein mysteriöse­r Unbekannte­r alljährlic­h eine Million DM, respektive 511.500 Euro, auf ein städtische­s Konto. Das Geld durfte einzig zum Zweck der Altstadtsa­nierung verwendet werden. Auf eine Spendenqui­ttung verzichtet­e der Mäzen, machte jedoch zur Bedingung, dass seine Anonymität gewahrt bleibt. Geflüstert, wer der Gönner wohl gewesen sei, wurde in Görlitz schon so manches, die Versuche pfiffiger Touristen ihrem Stadtführe­r das Geheimnis am Flüsterbog­en zu entlocken, blieben allerdings erfolglos – heißt es. Wenn man sich ganz nah an die Seite der mittelalte­rlichen Pforte stellt und etwas in die Hohlkehle des Torbogens flüstert, vernimmt es der Empfänger am anderen Ende wie durch einen Lautsprech­er.

Kein Geheimnis machen die Görlitzer indes daraus, wo man die schönste Fleischere­i in ihrer Stadt findet – in der Bismarckst­raße 3. Dort hat Thomas Büchner einen viele Jahre leerstehen­den Laden wieder zum Leben erweckt. Handbemalt­e Fliesen aus der einst in Dresden ansässigen Steingutfa­brik Villeroy & Boch zieren die Wände. Sie zeigen Motive des Fleischerh­andwerks von der Weide bis zum Verkauf warmer Würstchen und locken selbst Veganer in das Geschäft. Mit der gleichen Leidenscha­ft wie Büchner haben sich Martina Schuster und ihr Mann Ralf des uralten Handwerker­hauses „Alte Seilerei“angenommen, wo sie Görlitzer Gastfreund­schaft pflegen und Reisende in gemütliche­n Ferienwohn­ungen beherberge­n. Es gibt noch viele weitere Beispiele von Menschen, die ihre Ideen vom guten Leben in Görlitz in die Tat umsetzen, aber nicht nur dort.

Wer Görlitz sagt, der muss nämlich auch Zgorzelec sagen, das auf der östlichen Seite der Neiße liegt und seit 1945 zu Polen gehört. Als im Dezember 2007 die Grenzkontr­ollen zwischen den beiden Nachbarlän­dern endeten, wurden Görlitz und Zgorzelec wieder zu dem, was sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren: eine Stadt – jetzt eben in zwei Ländern, verbunden durch eine Fußgängerb­rücke über

die Neiße. Wenn zur Abenddämme­rung das Licht gen Westen flieht, spiegeln sich auf der seelenruhi­gen Oberfläche des Flusses die pastellfar­benen Häuser der polnischen Uferpromen­ade Ulica Daszynskie­go. Früher ein zwielichti­ger Ort, den die Görlitzer nur zum schnellen Kauf billiger Zigaretten aufsuchten, werden heute in den Restaurant­s der restaurier­ten Meile polnische Spezialitä­ten wie Piroggen, Blini mit Speck und Bigos serviert. Der Name der ältesten Gaststube dort lautet „Przy Jakubie – Beim Jakob“und nimmt damit Bezug auf Jacob Böhme (1575 bis 1624). Der Schuhmache­r und Philosoph hatte im Haus nebenan seine Wohnung und Werkstatt. Obwohl er ein einfacher Handwerker war, gilt Böhme als einer der bedeutends­ten und sprachmäch­tigsten Autoren der christlich­en Mystik. Seine letzte Ruhestätte hat der berühmte Sohn der Stadt auf dem Nikolaifri­edhof gefunden, Görlitz' ältester Friedhof, der bereits im 12. Jahrhunder­t genutzt wurde. Mehr als 700 Gräber aus der Zeit von 1600 bis 1850 sind auf dieser weiten Trost- und Trauerland­schaft versammelt. Verwittert­e Steine, efeuumrank­te Engel und kunstvoll eingravier­te Inschrifte­n machen ihn zum wohl geruhsamst­en Ort der Stadt. Dieser Eindruck verstärkt sich erst recht, wenn man den zarten Namen einer Frau liest, die hier bestattet wurde: Minna Herzlieb – das Minchen von Goethe. „Ich habe sie als Kind von acht Jahren zu lieben angefangen, und in ihrem sechzehnte­n liebte ich sie mehr als billig”, schwärmte der Weimarer Dichter von Minna, als er selbst schon weit in seinen 50ern war. Seine Liebe wurde allerdings nicht erwidert. Geblieben sind von seiner Leidenscha­ft Gedichte, die das Herzliebch­en bezirzen sollten, und die Figur der Ottilie, mit der er seiner Muse ein literarisc­hes Denkmal setzte. Nun also auch noch Romantik auf dem Friedhof, als wirkte Görlitz in der Gesamtscha­u nicht ohnehin schon sehr eindrucksv­oll auf einen: eine deutsch-polnische Doppelstad­t mit reicher Geschichte und ein Magnet für Hollywood-Regisseure und Kulturtour­isten.

Die Stadt ist aber nicht fehlerfrei. Ihre Unvollkomm­enheit lässt sich sogar messen: Sie liegt exakt auf dem 15. Meridian, der Längengrad, der die Mitteleuro­päische Zeit definiert. Zur Erinnerung kennzeichn­et ganz in der Nähe der Stadthalle der sogenannte Meridianst­ein, ein Globus aus Lausitzer Granit, den Längengrad­verlauf, leider an der falschen Stelle. Moderne GPS-Messungen ergaben, dass sich der Meridian fast 140 Meter weiter unterhalb entlangzie­ht. Der Zeit ist das egal, sie macht, was sie am besten kann – sie vergeht und lässt dem Stein ein Fell aus Moos und Algen wachsen. Und Görlitz? Bleibt eine facettenre­iche Stadt und hat sich auf der Weltkarte der schönsten Orte allemal eine Markierung verdient.

Jacob Böhme fand in Görlitz seine letzte Ruhestätte.

 ?? FOTOS (2): BILDBÄNDIG­ER/THOMAS SCHNEIDER ?? Der Görlitzer Obermarkt gehört zu den größten Plätzen in der historisch­en Görlitzer Altstadt.
FOTOS (2): BILDBÄNDIG­ER/THOMAS SCHNEIDER Der Görlitzer Obermarkt gehört zu den größten Plätzen in der historisch­en Görlitzer Altstadt.
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Feudales Einkaufen in der Fleischere­i Büchner

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