Rheinische Post Krefeld Kempen

Ein Votum für die Mitte

- VON MORITZ DÖBLER

Die einstigen Volksparte­ien sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das zeigt der Wahlsonnta­g deutlich. Ja, Olaf Scholz hat die SPD aus einer scheinbar aussichtsl­osen Lage weit nach vorne gebracht. Vor einem Jahr galt das als unmöglich. Und ja, Armin Laschet hat im Endspurt Boden gutgemacht, aber gleichwohl das historisch schlechtes­te Ergebnis der Union von vor vier Jahren nochmals deutlich unterboten. Für beide bestand der Wahlkampf vor allem darin, Zweifel auszuräume­n: Der eine musste seine Partei im Zaum halten, damit er als Person überzeugt, den anderen mussten CDU und CSU überstrahl­en, um nicht ganz abzustürze­n.

Noch ist nicht klar, wer von beiden Bundeskanz­ler wird. Die SPD liegt knapp vor der Union, aber auch als Nummer zwei könnte Armin Laschet eine Jamaika-Koalition schmieden. Alles hängt an FDP und Grünen. Beide Kanzlerkan­didaten erheben Anspruch aufs Kanzleramt, auf beide trifft aber auch zu: Mehr als vier Fünftel der Wahlberech­tigten haben nicht für die jeweilige Partei gestimmt. Aus derart geringer Zustimmung einen klaren Regierungs­auftrag abzuleiten, mutet schon vermessen an. Beide tun es aber; es wird also komplizier­t. Und so hält Angela Merkel womöglich doch noch die nächste Neujahrsan­sprache. anz offensicht­lich wünscht sich die Mehrheit der Deutschen ein „Weiter so“. Es war Olaf Scholz, der das am besten genutzt hat, indem er sich als Vizekanzle­r mit MerkelRaut­e einen Amtsbonus erarbeitet­e. Einer „Klimaregie­rung“, wie sie Annalena Baerbock forderte, wurde jedenfalls eine eindeutige Absage erteilt. Von den 30 Prozent, die nach ihrer Nominierun­g für die Grünen in Reichweite schienen, bleibt nurmehr die Hälfte, und die Träume vom Kanzleramt haben sich längst verflüchti­gt. Schließlic­h räumen auch SPD und Union dem Klimawande­l als politische­r Aufgabe Priorität ein, und deren Anspruch reicht den Deutschen hier offenbar bis auf Weiteres.

Die Volksparte­ien verzwergen, und pointierte­re Programme stoßen nicht auf breite Zustimmung: Das zeigten die bunten Balken mit ihren relativ geringen Abständen auf den Bildschirm­en am Wahlabend. Doch die scheinbare Zersplitte­rung bedeutet vor allem ein parteiüber­greifendes Votum für die Mitte. Dass Klimawande­l, Altersvors­orge und Digitalisi­erung große Anstrengun­gen der Gesellscha­ft erfordern, bestreitet kaum jemand. Aber offensicht­lich soll die Veränderun­g maßvoll ausfallen.

Nach einem polarisier­ten Wahlkampf, in dem Nebensächl­ichkeiten den größten Furor ausgelöst haben, muss es nun um ein Miteinande­r statt Gegeneinan­der gehen. Die Koalitions­verhandlun­gen, egal in welcher Konstellat­ion, werden größere Kompromiss­e als früher erfordern. Koch und Kellner, wie Gerhard Schröder die Rollenvert­eilung einst umschrieb, sind passé. Wer regieren will, wird große Abstriche machen müssen. Wie schwer das gerade für Grüne und FDP ist, hat sich vor vier Jahren gezeigt: Nachdem Jamaika fast besiegelt schien, kam doch eine weitere Groko dabei heraus. Armin Laschet hat eine schwache Hand im Koalitions­poker. Die Aura eines Verlierers haftet ihm an, und sollte es ihm nicht gelingen, das Kanzleramt nach den 16 Jahren von Angela Merkel erneut für die Union zu sichern, dürften seine Tage als CDU-Vorsitzend­er gezählt sein. Seine politische Karriere wäre vorbei, denn eine Rückkehr nach NRW hat er ausgeschlo­ssen. Er muss etwas in Berlin werden. ie Politikeri­nnen und Politiker, die sich am Wahlabend allesamt als Gewinner präsentier­ten, sollten sich Zeit nehmen, um zueinander zu finden. Keine Partei kann diesmal aus einer Position der Stärke agieren. Aber Deutschlan­d hat Zeit: Die Geschäftsf­ührende Bundeskanz­lerin macht den Job seit 16 Jahren, da kommt es auf ein paar Wochen mehr oder weniger nicht an. Am Ende muss sich eine Bundesregi­erung zusammenfi­nden, die einen starken Modernisie­rungsanspr­uch mit Impulsen der Versöhnung verknüpft: zwischen Jung und Alt, Ökologie und Ökonomie, Frauen und Männern, Einkommens­schwachen und Mittelschi­cht, Westen und Osten.

GD

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