Rheinische Post Krefeld Kempen
Ein Votum für die Mitte
Die einstigen Volksparteien sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das zeigt der Wahlsonntag deutlich. Ja, Olaf Scholz hat die SPD aus einer scheinbar aussichtslosen Lage weit nach vorne gebracht. Vor einem Jahr galt das als unmöglich. Und ja, Armin Laschet hat im Endspurt Boden gutgemacht, aber gleichwohl das historisch schlechteste Ergebnis der Union von vor vier Jahren nochmals deutlich unterboten. Für beide bestand der Wahlkampf vor allem darin, Zweifel auszuräumen: Der eine musste seine Partei im Zaum halten, damit er als Person überzeugt, den anderen mussten CDU und CSU überstrahlen, um nicht ganz abzustürzen.
Noch ist nicht klar, wer von beiden Bundeskanzler wird. Die SPD liegt knapp vor der Union, aber auch als Nummer zwei könnte Armin Laschet eine Jamaika-Koalition schmieden. Alles hängt an FDP und Grünen. Beide Kanzlerkandidaten erheben Anspruch aufs Kanzleramt, auf beide trifft aber auch zu: Mehr als vier Fünftel der Wahlberechtigten haben nicht für die jeweilige Partei gestimmt. Aus derart geringer Zustimmung einen klaren Regierungsauftrag abzuleiten, mutet schon vermessen an. Beide tun es aber; es wird also kompliziert. Und so hält Angela Merkel womöglich doch noch die nächste Neujahrsansprache. anz offensichtlich wünscht sich die Mehrheit der Deutschen ein „Weiter so“. Es war Olaf Scholz, der das am besten genutzt hat, indem er sich als Vizekanzler mit MerkelRaute einen Amtsbonus erarbeitete. Einer „Klimaregierung“, wie sie Annalena Baerbock forderte, wurde jedenfalls eine eindeutige Absage erteilt. Von den 30 Prozent, die nach ihrer Nominierung für die Grünen in Reichweite schienen, bleibt nurmehr die Hälfte, und die Träume vom Kanzleramt haben sich längst verflüchtigt. Schließlich räumen auch SPD und Union dem Klimawandel als politischer Aufgabe Priorität ein, und deren Anspruch reicht den Deutschen hier offenbar bis auf Weiteres.
Die Volksparteien verzwergen, und pointiertere Programme stoßen nicht auf breite Zustimmung: Das zeigten die bunten Balken mit ihren relativ geringen Abständen auf den Bildschirmen am Wahlabend. Doch die scheinbare Zersplitterung bedeutet vor allem ein parteiübergreifendes Votum für die Mitte. Dass Klimawandel, Altersvorsorge und Digitalisierung große Anstrengungen der Gesellschaft erfordern, bestreitet kaum jemand. Aber offensichtlich soll die Veränderung maßvoll ausfallen.
Nach einem polarisierten Wahlkampf, in dem Nebensächlichkeiten den größten Furor ausgelöst haben, muss es nun um ein Miteinander statt Gegeneinander gehen. Die Koalitionsverhandlungen, egal in welcher Konstellation, werden größere Kompromisse als früher erfordern. Koch und Kellner, wie Gerhard Schröder die Rollenverteilung einst umschrieb, sind passé. Wer regieren will, wird große Abstriche machen müssen. Wie schwer das gerade für Grüne und FDP ist, hat sich vor vier Jahren gezeigt: Nachdem Jamaika fast besiegelt schien, kam doch eine weitere Groko dabei heraus. Armin Laschet hat eine schwache Hand im Koalitionspoker. Die Aura eines Verlierers haftet ihm an, und sollte es ihm nicht gelingen, das Kanzleramt nach den 16 Jahren von Angela Merkel erneut für die Union zu sichern, dürften seine Tage als CDU-Vorsitzender gezählt sein. Seine politische Karriere wäre vorbei, denn eine Rückkehr nach NRW hat er ausgeschlossen. Er muss etwas in Berlin werden. ie Politikerinnen und Politiker, die sich am Wahlabend allesamt als Gewinner präsentierten, sollten sich Zeit nehmen, um zueinander zu finden. Keine Partei kann diesmal aus einer Position der Stärke agieren. Aber Deutschland hat Zeit: Die Geschäftsführende Bundeskanzlerin macht den Job seit 16 Jahren, da kommt es auf ein paar Wochen mehr oder weniger nicht an. Am Ende muss sich eine Bundesregierung zusammenfinden, die einen starken Modernisierungsanspruch mit Impulsen der Versöhnung verknüpft: zwischen Jung und Alt, Ökologie und Ökonomie, Frauen und Männern, Einkommensschwachen und Mittelschicht, Westen und Osten.
GD