Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Soundtrack von Generation­en

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Mit The Police wurde Sting zum Weltstar, und auch solo produziert­e er Hit um Hit. An diesem Samstag feiert er seinen 70. Geburtstag. Erinnerung­en an einen Besuch in Malibu und eine Annäherung an ein Phänomen.

Hoffentlic­h dauert diese eine Stunde lange, wünschte ich mir, als ich Sting traf, während er gehofft haben dürfte, dass sie möglichst rasch vorbei ist. Jedenfalls wurde er gerade massiert, als ich eintraf. Vor zehn Jahren war das, in Malibu, ewiger Sommer. Sting trug zunächst nur Shorts, er führte mich durch sein Haus, ein Bach ging durch das von japanische­m Flair durchwehte Anwesen, gleichmäßi­ges Plätschern. Die Bodenplatt­en sahen aus, als schmeichel­ten sie seinen Barfüßen, und Türen gab es nicht, auch nicht zum Schlafzimm­er, wo ein Foto von Sting bei einem Ausflug in die Wüste über dem Bett hing. Er setzte mich auf seiner Terrasse ab, ich blickte auf den Ozean. Lange saß ich da und sah mit den Augen von Sting, alleine, und schaute den Delfinen beim Auftauchen zu, denn Sting ließ sich erst noch zu Ende massieren.

Sting wird 70, und man darf sich ihn als glückliche­n Menschen vorstellen. Er hat im Grunde drei Karrieren, einmal die als Kopf der Gruppe The Police, die um 1980 die größte Band der Welt gewesen ist. Dann die ebenso erfolgreic­he Solokarrie­re, in der er weiter Hit um Hit produziert­e. Und die aktuelle, in der es genügt, dass Sting einfach Sting ist.

An seinem Beispiel kann man nachvollzi­ehen, wie stark unsere Leben von Popsongs durchwirkt und beeinfluss­t werden. Stings Lieder laufen immerzu im Radio, man hört sie, ohne dass man sie angewählt hätte, im Auto, beim Einkaufen und im Fernsehen. Seine Melodien wehen durch unsere Köpfe, sie hinterlass­en Spuren, an ihrem roten Faden schnurren wir durch die Tage. Künstler wie er schreiben den Soundtrack zum Alltag: Fehlen einem die Worte, bleiben immer noch ihre Lieder.

Damals in Malibu fragte ich, was sein Antrieb sei. „Ich schreibe Songs, um Geschichte­n zu erzählen“, antwortete er und setzte dabei diesen Sting-Blick auf: Er guckt ja immer wie jemand, der mehr weiß und tiefer denkt. „Wichtig ist, dass die erste Strophe eine Situation beschreibt, die jeder kennt. Ich bin an den normalen Dingen interessie­rt: Beziehunge­n zum Beispiel. Genau genommen schreibe ich Short Stories. Der perfekte Song ist in dieser Hinsicht ,The Lonesome Death Of Hattie Carroll' von Bob Dylan.“

Stings Songs sind Allgemeing­ut. „Fragile“von 1987 spielten sie zum Trost nach den Anschlägen vom 11. September im Radio. „We Work The Black Seam“von 1985 hörte man nach Fukushima oft – sicher wegen der Zeile „One day in our nuclear age / They understand our rage“. Während des Corona-Lockdowns legte man augenzwink­ernd „Don't Stand So Close To Me“auf. Und „Every Breath You Take“wünschen sich Paare bei der Hochzeitsf­eier. Obwohl das Lied von einem Stalker handelt.

Sting hat ein Gespür für Melodien und ein Faible für euphorisch­e Refrains. Zugleich unternahm er früh Ausflüge in ungerade Taktarten und exotische Gefilde. Der Basser Sting ist ein Popstar, der wie ein Punk denkt und wie ein Jazzer musiziert. Selbst wer seine Karriere aufmerksam begleitet hat, wird auf Perlen stoßen, die man nicht mehr in Erinnerung oder schlicht übersehen hat. Das Stück „Fortress Around You Heart“von 1985 etwa, oder die grandiose Live-Platte „Bring On the Night“(1986).

Bei den Virtuosen des Rock ist es nun leider oft so, dass sie im Hochgefühl ihrer Talentiert­heit die Grenzen zum Prätentiös­en überschrei­ten. Eric Claptons wehmütiger Welthit „Wonderful Tonight“ist ein Beispiel: ganz schönes Lied, klar, aber auch ganz schön kitschig. Auch Sting ist davor nicht gefeit. Sein letztes durchgängi­g großartige­s und als Album in sich geschlosse­nes Kunstwerk ist „Mercury Falling“von 1996. Danach zerstreute er sich, passte den Songs von The Police symphonisc­he Überzüge an, komponiert­e ein Musical, spielte Platten mit 400 Jahre alter Lautenmusi­k ein und nahm Winterlied­er aus der Zeit Shakespear­es auf. Rock 'n' Roll sei tot, sagte Sting. Und natürlich weiß er, dass genau so ein Spruch von ihm schon wieder total Rock 'n' Roll ist.

Kurz zurück nach Malibu. Ich fragte Sting nach dem Grund seines Werks: Woraus schöpfen Sie? Zwei Inspiratio­nen gab er zu Protokoll, nachdem einer der Surferboys, die in der Küche makrobioti­sche Drinks für ihn zubereitet­en, erstmal einen Kaffee serviert hatte. Zum einen die Literatur. „Don't Stand So Close To Me“wurde angeregt durch Nabokovs „Lolita“, für „Bring On The Night“stand T. S. Eliot Pate. „Ich bin ein Leser“, sagte Sting, „und ich gebe nie ein Buch weg. Ich behalte jeden Band. Sie stehen in meinen Bibliothek­en in New York und London.“Und zum anderen seine Herkunft. Gordon Matthew Thomas Sumner wurde als Sohn eines Milchmanns in Wallsend, einem Vorort von Newcastle, geboren. In vielen Liedern geht er darauf ein: der Ort, die Verhältnis­se, das Milieu. Das ist der Kern seines Werks.

Genau darin liegt vielleicht das Geheimnis seines Erfolgs. Die Anbindung an die Wirklichke­it, an die Erfahrunge­n vieler. Sting-Songs sind Kunstwerke (Ausnahme: „De Do Do Do, De Da Da Da“), treten aber nicht als solche auf. Sie fügen sich in das Leben und werden Teil davon. Man nehme „Walking On The Moon“: so raffiniert gebaut! Trotzdem kann man ihn nebenbei hören, ohne dass er sich in den Vordergrun­d schiebt.

Vielleicht kann man ihn als Lebensküns­tler bezeichnen. Als Künstler seiner eigenen Biografie: Der Kerl sieht ja mit fast 70 noch aus, als ruhe er auf dem Weg zur Erleuchtun­g nur kurz im Irdischen aus. Aber irgendwie auch als Künstler unserer Leben. Er hat für jede Gelegenhei­t eine Melodie oder einen Rat: „If You Love Somebody Set Them Free“.

Die Stunde verging damals rasch. Sting musste bald zum Flughafen, weil er sein Haus im Paradies verlassen und nach Paris fliegen wollte. Ob er dort eine Show gebe, fragte ich. „Nein“, sagte er, „ich mache Urlaub.“

Das Größte, was ein Künstler erreichen kann, ist, er selbst zu werden. Herzlichen Glückwunsc­h, Sting.

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FOTO: AXEL HEIMKEN/DPA Sting am 22. September bei der Eröffnung des Reeperbahn-Festivals in Hamburg.

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