Rheinische Post Krefeld Kempen
Ein magischer Erzähler unserer Zeit
Mit dem 73-jährigen tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah bekommt ein noch wenig bekannter Autor den Nobelpreis.
STOCKHOLM Jetzt staunen wir wieder einmal, und das ist im Grunde ja auch gut so. Weil uns mit der Wahl des kaum bekannten tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah zum neuen Literaturnobelpreisträger manches vor Augen gehalten wird: wie reich und vielfältig die Weltliteratur ist und wie eng unsere Leseinteressen doch oftmals sind. Wie bereitwillig wir also den ausgetretenen Pfaden des Literaturbetriebs folgen. Jetzt gibt es mit der Entscheidung aus Stockholm also eine Entdeckung zu machen, die allerdings mit etwas Aufwand verbunden ist. Zwar wurden einige seiner Romane ins Deutsche übertragen. Doch „Das verlorene Paradies“, „Donnernde Stille“, „Ferne Gestade“und zuletzt – das heißt vor 15 Jahren – „Die Abtrünnigen“sind hierzulande derzeit kaum lieferbar.
Die wirkliche Entdeckung muss somit noch etwas auf sich warten lassen und bleibt zunächst bloß ein Versprechen. Dass der 73-jährige Nobelpreisträger auf ein stattliches Werk blicken kann und bei uns dennoch nur sporadisch wahrgenommen wurde, dokumentiert auch den immer noch wirksamen Eurozentrismus von Rezeption und Würdigung. Die Wahl von Abdulrazak Gurnah aber deswegen gleich als ein politisches Statement der Jury zu deuten, wäre zu billig und ungerecht gegenüber seiner literarischen Kraft.
Denn Gurnah, auf der Insel Sansibar aufgewachsen und Ende der 60er Jahre nach Großbritannien geflohen, ist vor allem ein großer Geschichtenerzähler. Der seine Exilerfahrung und die vieler anderer Menschen immer wieder zum Stoff seines Erzählens macht und der dabei aus den Quellen zweier Kulturen schöpft. Gurnah webt dichte Erzählnetze, die mit seiner poetischen, manchmal magischen Sprache
geknüpft wurden. Wie in „Die Abtrünnigen“. Es ist das Jahr 1899, und Martin Pearce, ein englischer Orientalist mit kolonialkritischen Ideen, taucht vor Anbruch des Tages völlig erschöpft im Inder-Quartier einer südkenianischen Küstenstadt auf: „Es gab eine Geschichte darüber, wie er zum ersten Mal gesehen wurde. Tatsächlich gab es mehr als eine, aber mit der Zeit und durch das viele Weitererzählen vermischten sich Elemente der verschiedenen Geschichten zu einer. In allen tauchte er im Morgengrauen auf, wie eine Gestalt aus einem Mythos... Unbestritten jedenfalls war – obwohl die Geschichten im Grunde überhaupt außerhalb jeder Kontroverse standen, denn im Hinblick auf das Ungewöhnliche seines Erscheinens waren sich alle einig –, dass es Hassanali, der Krämer, war, der ihn fand oder von ihm gefunden wurde.“
So beginnt große Literatur. So werden Konfrontationen choreografiert, so trifft Einheimisches auf Fremdes, Unerwartetes. Das Werk Gurnahs ist voll davon: von der Identitätssuche der Menschen, die entwurzelt wurden und heimatlos blieben, vom kolonialen Erbe, das in den Vertreibungs- und Fluchtgeschichten bis heute wirkt. Abdulrazak Gurnah ist auch in diesem Sinne ein Autor unserer Zeit. Jetzt liegt es an uns, den Lesern, ihn zu einem auch vielbeachteten Autor der Gegenwart zu machen.