Rheinische Post Krefeld Kempen
Neue Töne für eine erschütterte Welt
Pandemie, Kriege – die Welt ist in einer schwierigen Situation. Deshalb muss sich die Wahrnehmung neu schärfen. Das ist eine Aufgabe der Kunst, finden Sebastian Blasius und Tilman Kanitz. Wie das geht, zeigten sie in der Kunstkirche Pax Christi.
KREFELD Zu einem ungewöhnlichen Experiment lud die Gemeinde Pax Christi: eine Klanginstallation, eine Aufforderung an ein bewusstes Hören, eine Provokation der Sinne, im besten Fall eine Erweiterung des Bewusstseins – für sich, für Töne, die zu Klang und Wörter, die zu Worten werden. Bei „unter dem eis“handelt es sich um installatives Konzert von Regisseur Sebastian Blasius und Musiker Tilman Kanitz. Es sei eine Reaktion auf die allgegenwärtige Infragestellung und Zersetzung unseres Selbstverständnisses gewesen, auf eine Zeit, in der nichts mehr sicher scheint, in der eine Pandemie in der Gesellschaft ihre Spuren hinterließ, wie Kriege sich weiter in ihr einzeichnen, erklärt Blasius.
Mit Kanitz habe er sich die Frage gestellt, ob sich nicht auch die Wahrnehmung verändern müsse. Zerrüttete Verhältnisse fordern die Kunst heraus, nach neuen Wegen zu suchen, die Menschen zu erreichen, zum Nachdenken zu bringen – vielleicht widerstandsfähiger gegen die Wirren der Zeit zu machen. Während etwa von der Gruppe 47 nach einer neuen Sprache für Literatur gesucht wurde, suchen Blasius und Kanitz nach neuen Klängen für ein Konzert, in dem sie Musik in Elemente zerlegen, Textzeilen aus Gedichten des 1912 verstorbenen Lyrikers Georg Heym, Sach- und Werbetexte dazu mischen.
Kanitz kommt mit seinem Cello in die Mitte der im Halbkreis angeordneten Stühle. Er legt behutsam sein Instrument ab und setzt sich, aufrecht, erwartungsvoll. Das Konzert erreicht den Raum über Lautsprecher, zunächst als diffuses Rauschen, unterbrochen von tiefen Tonfolgen, die von weit unter dem Meer zu kommen scheinen und auch spürbar werden. Bisweilen sind die
Klänge schwer auszuhalten, sie werden lauter, drängender, sie scheinen nach einer Reaktion zu rufen, nach Aufbegehren, dann wieder wirken sie rein wie Wassertropfen. Kanitz sitzt ruhig, lässt den Blick schweifen. Als Teil der Installation will er die Konzentration halten, erklärt er, für ein Konzert, das Grenzen bewusst auslotet und überschreitet.
Es ist passend, dass Lyrik von Heym Teil der Klanginstallation wurde, gilt er doch als wichtigster Vertreter des literarischen Expressionismus, einer Epoche, die vor über 100 Jahren in verschiedenen Kunstrichtungen auf die durch die Industrialisierung vorangetriebene Entwurzelung des Menschen reagierte. Heym schuf verwirrende, klirrendkalte und oft schmerzende Bilderwelten, die Blasius und Kanitz aufgreifen und buchstäblich zum Klingen bringen, indem sie Zeilen wiederholen, von verschiedenen Stimmen lesen lassen, zerlegen bis aus der Zeile die Essenz herausfällt und sich in das Gedächtnis einprägt, so lange bis nur ein Wort übrigbleibt, bis auch dieses Wort seine Sinnhaftigkeit verliert in der ständigen Wiederholung und zum reinen Klang verfällt. So werden die Zuhörenden Zeuge der Erosion, sie erleben die Zersetzung, den Zerfall, den Verlust in der eigenen Hörerfahrung. Gleichsam
wiederholt auch das Gedächtnis die Sätze, repetiert so nicht nur die Zerstörung, sondern übt auch die Zusammenführung des Gehörten zu Bildern. „Die Menschen aber, die vergessen werden,// Hat Winter weit zerstreut in kahler Fläche// Und bläst sie flüchtig über dunkle Erden“lauten die Zeilen, die sich mit bisweilen verstörenden Klängen in die Köpfe und in das Bewusstsein schleichen. Wie spitze Klangpfeile durchbohrt das Publikum die drohende Möglichkeit, dass davon nur ein „vergessen“übrigbleiben könnte. Gebrochen wird der gesprochene Text durch unerwartete Werbung für eine medizinische Hautcreme sowie einen Sachtext über das klinische Hautersatzverfahren und Gedanken über Sehnsucht nach Sicherheit. Die zugrundeliegende Musik ist „Sarabande“aus der Violoncello-Suite Nr. V von Bach - elektronisch um ein Vielfaches verlangsamt. Gegen Ende, als die Wörter „vergessen“und „Haut“sich eingeprägt haben, steht Kanitz auf und geht. Wenig später übertönen Cello-Klänge das Rauschen aus den Lautsprechern. Kanitz spielt, zelebriert jeden Ton, wissend, dass die Sehnsucht nach haltgebender Melodie selten intensiver war – und fügt alles Gehörte und Erlebte zu einem faszinierenden Ganzen.