Rheinische Post Krefeld Kempen

47.000 Krefelder pro Jahr psychisch erkrankt

- VON JOACHIM NIESSEN

Die Psychosozi­ale Arbeitsgem­einschaft betont, dass die Mitglieder aller Untergrupp­en in ihren Einrichtun­gen mit Fachkräfte­und Personalma­ngel sowie fehlenden finanziell­en Ressourcen zu kämpfen haben.

KREFELD Die Psychosozi­ale Arbeitsgem­einschaft (PSAG) Krefeld schlägt Alarm. Sie weist darauf hin, dass Gesetzesan­sprüche für Menschen mit Behinderun­gen und besonderen sozialen Schwierigk­eiten immer schwierige­r umgesetzt werden können. Anspruchsb­erechtigte erhielten dann nicht die notwendige­n Leistungen. Auf der aktuellen Jahreshaup­tversammlu­ng der PSAG 2023 ist Olaf Stiefelhag­en, Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie, Oberarzt in der Alexianer-Klinik für psychische Gesundheit Krefeld als Vorsitzend­er der PSAG für die nächsten zwei Jahre turnusgemä­ß wiedergewä­hlt worden.

Es gibt in der Seidenstad­t Zahlen, die Anlass zur Sorge geben: „Jedes Jahr sind mehr als 25 Prozent der erwachsene­n Bevölkerun­g von einer psychische­n Erkrankung betroffen, dies wären in Krefeld rund 47.000 Erwachsene“, rechnet die Stadtverwa­ltung in einer Erklärung. „Armut und psychische Erkrankung­en haben viele Zusammenhä­nge. Bei Menschen mit einer psychische­n Erkrankung ist das Armutsrisi­ko 1,5 bis dreimal so hoch.“Dies gilt – laut der Stadtbehör­de – übrigens auch in die umgekehrte Richtung. Mehr als jeder dritte Bezieher von Hartz IV (heute Bürgergeld) kämpfte 2020 laut dem Institut für Arbeitsmar­kt und Berufsfors­chung mit psychische­n Problemen, viele schon vor dem Leistungsb­ezug. Es kann also auch in Krefeld jede und jeden treffen. Viele Menschen haben innerhalb ihrer Verwandtsc­haft, Bekanntsch­aft, Nachbarsch­aft oder im Freundes- oder Kollegenkr­eis mit psychisch-/suchtkrank­en Menschen zu tun.

Grundsätzl­ich hat die PSAG bei der Jahreshaup­tversammlu­ng festgestel­lt, dass die Mitglieder aller Untergrupp­en in ihren Einrichtun­gen mit Fachkräfte- und Personalma­ngel sowie finanziell­em Ressourcen­mangel zu kämpfen haben. In allen Gruppen bemängelte­n die Praktikeri­nnen und Praktiker, dass Rechtsansp­rüche Betroffene­r sei sehr zeitintens­iv.

Obwohl die Anbieter des psychosozi­alen Systems mit deutlichen strukturel­len Mängeln wie fehlenden Ansprechpa­rtnern und langen Bearbeitun­gszeiten zu kämpfen hätten, seien die meisten Mitarbeite­nden immer noch hoch motiviert und profession­ell. Die PSAG will den Blick darauf richten, dass Fachleute unter diesen schwierige­n Bedingunge­n arbeiten müssen. So nimmt die Anzahl der Menschen mit Unterstütz­ungsbedarf in der eigenen Wohnung oder besonderen Wohnformen stetig zu. In den besonderen Wohnformen können etwa freie Bewohnerpl­ätze nicht belegt werden, aufgrund von Personal- und Fachkräfte­mangel bei vorgeschri­ebenem Betreuungs­schlüssel. Die Fachkräfte seien dauernd überlastet und müssten hohe Krankenstä­nde durch Vertretung­sarbeit kompensier­en, auf der anderen Seite werden die bürokratis­chen Ansprüche durch den Gesetzgebe­r erhöht. Das allerdings werde bei der Finanzieru­ng nicht entspreche­nd berücksich­tigt und käme den Klienten nicht zugute.

Viele Leistungse­rbringer des psychosozi­alen Systems könnten es sich außerdem mittlerwei­le – trotz des steigenden Bedarfs – kaum noch leisten, Ausbildung­splätze anzubieten, da die Praxisanle­itung von Auszubilde­nden und Studierend­en immer ressourcen­intensiver werde und diese Zeit von der Betreuungs­zeit der Klientinne­n und Klienten abgehe. Zudem brächen mehr überforder­te Azubis vorzeitig ihre Ausbildung ab. Auch die Anzahl der wichtigen ehrenamtli­ch tätigen Menschen

mit längerfris­tigem Engagement in der Beziehungs­pflege, etwa in der Arbeit mit älteren Menschen mit psychische­n Erkrankung­en, habe abgenommen.

Die PSAG warnt vor den Folgen: Sollte sich der Trend einer erschwerte­n Versorgung von Menschen mit entspreche­nden Beeinträch­tigungen durch eine unzureiche­nde Finanzieru­ng von Fachkräfte­n und die Verschärfu­ng von Prüfkriter­ien durch die Aufsichtsb­ehörden fortsetzen, bestehe die Gefahr, dass mehr Menschen durch das Versorgung­sraster fallen. Es würden am ehesten diejenigen auf der Strecke bleiben, die den größten Versorgung­sbedarf haben, die aber durch die Art ihrer Krankheit/Beeinträch­tigung zu den „Risikofäll­en“gehören. Das seien Personen, die nicht zuverlässi­g zu betreuen sind, die die knappen Ressourcen der Leistungse­rbringer sprengen und sich – rein wirtschaft­lich gesehen – „nicht rechnen“. An dieser Stelle zu sparen, könne teuer werden. Der generelle Anspruch der Menschen nach der Behinderte­nrechtskon­vention der Vereinten Nationen auf Selbstbest­immung und soziale Teilhabe sei mit fehlenden menschlich­en und finanziell­en Ressourcen nicht in Übereinsti­mmung zu bringen.

Die PSAG ist eingericht­et worden, um die Interessen von Menschen mit psychische­n und Sucht-Problemen und -Erkrankung­en, Behinderun­gen oder psychosozi­alen Beeinträch­tigungen in Krefeld zu vertreten. Sie ist seit 49 Jahren das Herzstück der Gemeindeps­ychiatrie Krefelds und stellt das größte Krefelder Netzwerk von Fachleuten in diesem Bereich dar. Die Mitglieder der PSAG kommen aus über 140 Angeboten und Einrichtun­gen des psychosozi­alen und medizinisc­hen Systems vor Ort, die sich alle mit ihren Fachleuten, aber auch Helfern und Ehrenamtle­rn oder als Betroffene für Menschen verschiede­nen Alters mit einsetzen.

Die PSAG ist auch in der Krefelder Gesundheit­skonferenz, in der Konferenz für Alter und Pflege und in den für Gesundheit und Soziales sowie Jugend zuständige­n Ratsaussch­üssen vertreten. Psychische Erkrankung­en zählen in Deutschlan­d, nach Herz-Kreislauf-Erkrankung­en, bösartigen Neubildung­en und die Muskulatur und das Skelett betreffend­e Erkrankung­en, zu den vier wichtigste­n Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahr­e.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE „Armut und psychische Erkrankung­en haben viele Zusammenhä­nge. Bei Menschen mit einer psychische­n Erkrankung ist das Armutsrisi­ko 1,5 bis dreimal so hoch“, sagt die Krefelder Stadtverwa­ltung.
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PFARRER DER MENNONITEN­GEMEINDE KREFELD FOTO: BK Christoph Wiebe, Pfarrer in Krefeld

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