Rheinische Post Krefeld Kempen

Ein Vorhang für den Gletscher

- VON BARBARA BARKHAUSEN

Der Thwaites in der Antarktis schmilzt und lässt den Meeresspie­gel steigen. Bedroht sind Städte wie Hamburg oder die Küste der Niederland­e. Ein Wissenscha­ftler aus Finnland will das Eis mithilfe eines ungewöhnli­chen Projekts retten.

SYDNEY John Moore war selbst sechs Mal in der Antarktis. Wie menschenfe­indlich die Region ist, hat er am eigenen Leib erlebt. Einmal blieb er mit seinem Forschungs­schiff im Eis stecken, sein Team musste per Eisbrecher gerettet werden. Vor allem auf den wundesten Punkt dieser widrigen Region hat der Gletscheru­nd Klimaexper­te der finnischen University of Lappland seit Langem ein Auge: den Thwaites-Gletscher.

Moore beobachtet seit Jahrzehnte­n, wie viel Eis der Gletscher über die Jahre abgebaut hat. „Das große Problem ist, dass mehr als 90 Prozent der gesamten Wärme, die sich durch das CO2 in der Atmosphäre ansammelt, in den Ozean gelangt“, sagt er. Und es gebe keine schnelle Möglichkei­t, diese enorme Wärmemenge im Ozean loszuwerde­n.

Die Leidtragen­den sind die Gletscher. Würde der Thwaites komplett kollabiere­n, würde der Meeresspie­gel global um etwa 65 Zentimeter steigen. Ein solcher Kollaps könnte in der Folge den gesamten westantark­tischen Eisschild destabilis­ieren. Schmilzt dieser ebenfalls, so könnte der Meeresspie­gel gar um zwei bis drei Meter steigen. Städte wie San Francisco, New York, Miami, London, Jakarta oder Hamburg würden überflutet werden. Für einige Pazifiksta­aten wie Kiribati oder tief liegende Länder wie die Niederland­e oder Bangladesc­h wären die Folgen so katastroph­al, dass einige Medien den Thwaites bereits „Doomsday Glacier“– übersetzt so viel wie „Weltunterg­angsgletsc­her“– getauft haben.

Moore ist sich dieser Gefahr bewusst und will wie viele seiner Kollegen nicht mehr nur warnen, sondern handeln. Deswegen hat er es sich zusammen mit Kollegen der University of Cambridge zur Aufgabe gemacht, das Abschmelze­n des Gletschers zu verlangsam­en. Seine Idee ist, einen etwa 100 Kilometer langen und 200 Meter hohen Vorhang zu installier­en, der warmes Meerwasser vom Gletscher fernhält, durch das der Gletscher derzeit von unten abschmilzt. Wichtig sei, dass die Installati­on „keinen nennenswer­ten Schaden“an ihrer Umwelt anrichte: „Sie muss reversibel sein, falls sich herausstel­lt, dass dies eine schrecklic­he Idee ist.“Deswegen habe er an einen Vorhang statt einer festen, starren Barriere gedacht. Zudem

soll der Vorhang schwimmfäh­ig sein – „die Auftriebsk­raft wirkt also gegen die Druckkraft des Wassers“, erklärt der Experte.

Durch eine gewisse Flexibilit­ät lasse sich verhindern, dass der Vorhang zerrissen werde, wenn beispielsw­eise ein schwimmend­er Eisberg auf ihn stoße. Gleichzeit­ig müsse der Vorhang aber dem Druck standhalte­n, den das warme Wasser auf ihn ausübe. Als Materialie­n kommen laut John Moore beispielsw­eise Leinwände, Glasfaser- und Stahlrohre infrage – Plastik will er auf gar keinen Fall einsetzen, um die Natur nicht zu verschmutz­en.

Moore schätzt, dass ein derartiger Vorhang inklusive Installati­on rund 50 Milliarden US-Dollar kosten würde. Er ist jedoch optimistis­ch, dass die 29 Länder des Antarktisv­ertrags die Rechnung begleichen würden, da der Anstieg des Meeresspie­gels weitaus höhere Kosten verursache­n würde.

So überzeugt Moore und seine Kollegen von der Idee sind, so skeptisch reagieren andere Teile der Wissenscha­ftsgemeind­e auf sie. Keith Nicholls von der British Antarctic Survey, der betont, dass er Geo-Engineerin­g grundsätzl­ich in Erwägung ziehe, fürchtet beispielsw­eise, dass es für eine derartige Rettungsak­tion bereits zu spät ist. „Manche würden sagen, dass wir die Stalltür schließen würden, nachdem das Pferd durchgebra­nnt ist“, sagt er: „Das heißt, der Gletscher ist bereits auf dem Weg zu einem neuen Stabilität­spunkt, und nichts, was wir an der Grundschme­lze ändern können, wird daran etwas ändern.“

Ted Scambos, ein Antarktisf­orscher der University of Colorado, hat zudem Aufwand und Kosten eines derartigen Projekts im Auge. Betrachte man Moores Ideen im praktische­n Sinne, so würden sie bereits „angesichts des schieren Ausmaßes des Problems“verblassen, meint er: „Eine Eisfläche, die etwa die Größe der Insel Großbritan­nien hat und von der ein Großteil mehr als eine Meile dick ist; und eine Meeresbuch­t so groß wie die Ägäis oder die Bass-Straße“– zählt er als Bedenken auf. Die Bass-Straße liegt zwischen Australien und Tasmanien. Zudem würde sich das Ganze „in der buchstäbli­ch am schwierigs­ten zu erreichend­en Region der Erde“abspielen, wo jedes Schiff eistauglic­h sein müsste. „Die Mehrheit der Polarwisse­nschaftler

hält dies weitestgeh­end für unmöglich, unerwünsch­t und auf lange Sicht ineffektiv“, so Scambos. Er fügt hinzu: „Die einzig ehrliche Lösung besteht darin, unsere Weltwirtsc­haft so schnell wie möglich zu dekarbonis­ieren und tatsächlic­h aktiv Kohlenstof­f aus der Atmosphäre zu entfernen.“

Auch Moore selbst ist sich aller genannten Hinderniss­e seiner Kollegen durchaus bewusst. Doch der Mann aus Finnland will nicht mehr nur mit dem warnenden Zeigefinge­r agieren. „Ich will etwas tun und dabei den großen Schaden, den die Welt durch den Klimawande­l nimmt, eindämmen“, sagt er. Auch wenn eine Umsetzung noch in weiter Ferne sein dürfte, so arbeiten er und seine Kollegen auf Hochtouren, um ihre Machbarkei­t nachzuweis­en. Neben Computersi­mulationen führen sie bereits erste Tests in Tanks durch. Als erste größere Experiment­e sollen Prototypen in einem Fluss in Großbritan­nien und später in einem norwegisch­en Fjord folgen.

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FOTO: ROBERT LARTER/AP „Weltunterg­angsgletsc­her“ist einer der Namen für den Thwaites in der Antarktis – hier auf einer Aufnahme von 2019.

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