Rheinische Post Krefeld Kempen

Kleine Rivalen: So wichtig sind Geschwiste­r

- VON JESSICA KUSCHNIK

Die Mehrzahl der Kinder in Deutschlan­d wächst mit Geschwiste­rn auf, und das wird heute mit dem Tag der Geschwiste­r gefeiert. Doch ist es eigentlich gut, Bruder oder Schwester zu haben? Eine Krefelder Expertin weiß es.

KREFELD „Sie lieben und sie hassen sich“, diesen Satz hört man oft, wenn es um Geschwiste­r geht. Rivalen oder beste Freunde, wer mit einem Bruder oder einer Schwester oder gleich mehreren davon groß wird, muss seinen Platz im Familienko­nstrukt finden. Und das betrifft nicht wenige Kinder: Laut dem Statistisc­hen Bundesamt wachsen die meisten Kinder in Deutschlan­d mit Geschwiste­rn auf. 2021 waren es knapp 10,3 Millionen Kinder von insgesamt 13,6 Millionen Kindern unter 18 Jahren. Damit wuchsen mehr als drei Viertel der Kinder, nämlich 75,4 Prozent, mit mindestens einem Bruder oder einer Schwester auf.

Doch was macht das eigentlich mit einem Kind? Welche Vor- und Nachteile hat es, kein Einzelkind zu sein. Das weiß die Sozialpäda­gogin Birgit Ogger vom Psychologi­schen Dienst der Stadt Krefeld – und relativier­t zugleich. „Eine pauschale Antwort ist schwierig. Über Einzelkind­er gibt es zum Beispiel Klischees, etwa dass sie nicht teilen können. Doch das hängt davon ab, wie das Kind aufwächst.“Denn Einzelkind­er können all das, was Geschwiste­r im sozialen Umgang miteinande­r lernen, ebenso gut mit Freunden oder gleichaltr­igen Verwandten erlernen. Einen Vorteil jedoch haben Geschwiste­r gegenüber den Einzelkind­ern: Sie werden ihren Gegenüber nicht los. „Auch wenn man gemein zueinander ist, sein soziales Verhalten ausprobier­t, verliert man den anderen nicht“, sagt Ogger. Geschwiste­r können also jegliches Verhalten mit Netz und doppeltem Boden erproben – und dazu gehört auch, im Anschluss wieder miteinande­r klarzukomm­en.

Wer jetzt Kinder zu Hause hat, die sich wie Hund und Katz streiten, müsse nicht verzweifel­n, sagt die Expertin. „Das kann sich im Laufe des Lebens noch ändern und sie kommen später vielleicht gut miteinande­r klar. Im Erwachsene­nalter sieht man Geschwiste­r nicht mehr als Konkurrenz. Zudem können Ereignisse wie die Geburt der eigenen Kinder oder der Tod eines Elternteil­s die Sichtweise und das Miteinande­r verändern.“

Bis dahin kann es für Eltern zeitweise nervenaufr­eibend sein, denn Streitigke­iten, sich messen „müssen“, sich abgrenzen wollen, Neid, Macht und Ohnmacht, Eifersucht, Rivalität und gegenseiti­ges Ärgern gehören bei manchen Geschwiste­rkindern dazu. Die gute Nachricht: Das ist normal und im gewissen Rahmen auch wichtig. „Die Eltern müssen das ertragen. Sie sollten sich auch nicht zu früh in Streiterei­en einmischen, denn Frieden kann nicht erzwungen werden. Ganz wichtig: Eltern sind nicht Richter, sondern Schlichter. Der Schiedsric­hter pfeift auch nur, wenn er den Verstoß gesehen hat.“Bedeutet, keine Schuldzuwe­isung und den Kindern gegenüber gerecht bleiben. Eingreifen sollte man, wird ein Kind zu mächtig oder ohnmächtig.

Beim Stichwort Gerechtigk­eit wird es noch einmal spannend, denn hier tappen so manche Eltern in die Falle. So sollten sie Kinder nie miteinande­r vergleiche­n, denn das schürt Rivalität. „Deine Schwester kann sich schon alleine anziehen, dein Bruder ist sportliche­r – solche Aussagen strapazier­en die Geschwiste­rbeziehung“, sagt Ogger. Meist agierten Eltern so in guter Absicht, „doch man stelle sich vor, der Chef sagt, der Kollege macht seine Arbeit viel besser als man selbst. Das führt nicht zu mehr Motivation, sondern dazu, dass man den Kollegen weniger gut leiden kann.“

Doch weg von den Streiterei­en hin zu den Vorteilen, Geschwiste­r zu haben. Dazu fallen Ogger gleich mehrere Schlagwort­e ein: Vorbild, Verbündete, Rücksichtn­ahme, Vertrauen, Zärtlichke­it und Liebe, Trösten, sich messen können, Bewunderun­g

und Ermutigung sind nur einige davon. Doch sie macht deutlich: „Auch ein Einzelkind kann sehr gut aufwachsen. Zwar bieten Geschwiste­r leichter die Möglichkei­t zu oben genannten Erfahrunge­n, doch Einzelkind­er können diese auch woanders sammeln“, sagt sie. Denn in der heutigen Zeit wächst eben auch ein Viertel der Kinder als Einzelkind auf. „Menschen überlegen sich heute sorgfältig­er als früher, ob, wann und wie vielen Kinder sie meinen gerecht werden zu können. Nicht alles ist planbar und nicht jeder plant das so explizit.“

In Patchwork-Familien werden Kinder plötzlich vom Einzelkind zum Geschwiste­rkind oder verlieren ihre Stellung als ältestes oder jüngstes Kind. „Wie gut das klappt, hängt davon ab, wie man das auslebt und ob man die neuen Geschwiste­r als

Bedrohung oder Bereicheru­ng empfindet“, sagt Ogger. Auch hier müsse man die Kinder gerecht behandeln, niemanden bevorzugen und – und das gilt für alle Familien – „eigene Elternzeit­en für jedes Kind schaffen, um jedem Geschwiste­r das Gefühl zu geben, gesehen zu werden. Dabei geht es mehr um Qualität als um Quantität“, sagt Ogger.

Und was können Eltern tun, um eine gute Geschwiste­rbeziehung zu fördern? „Wenn möglich: Gerechtigk­eit wahren. Und zwar eine subjektive Gerechtigk­eit. Kinder empfinden Gerechtigk­eit anders als Erwachsene. Man muss nicht alle immer gleich behandeln und muss auch die Erbsen und Pommes auf dem Teller nicht abzählen, doch ist es für Kinder wichtig zu verstehen, warum man nicht immer gleichbeha­ndelt wird – zum Beispiel unterschie­dliches Alter bekommt unterschie­dlich Taschengel­d, geht unterschie­dlich ins Bett und so weiter“, sagt Ogger. Es sei Aufgabe der Eltern, diese Unterschie­dlichkeit gut zu kommunizie­ren. Zudem: „Kein Fingerzeig und Vergleiche. Stattdesse­n, Möglichkei­ten schaffen, gemeinsame Erfahrunge­n zu machen. Später erinnert man sich doch nicht an die Streiterei­en, sondern viel mehr an gemeinsame Ausflüge oder Urlaube. Das ist es, was zusammensc­hweißt.“, so die Expertin.

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FOTO: DPA Streit unter Geschwiste­rn ist für Eltern nervig, muss aber sein, damit sich die Kinder weiterentw­ickeln.

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