Rheinische Post Krefeld Kempen
Tanzstück über Leben nach Mitternacht
Eine Bushaltestelle, ein kurzer Flirt und ein plötzlich auftauchender Exhibitionist: Die Choreografin Mira Rosa Plikat lotet aus, was Menschen nachts in der Stadt begegnen kann. Das Tanzfestival First and Further Steps hat begonnen.
KREFELD Zum Auftakt des Tanzfestivals First and Further Steps zeigt die Kölner Choreografin Mira Rosa Plikat & Collaborators „Nachttarif“– ein Stück über das Leben nach Mitternacht. Die Studiobühne der Fabrik Heeder erlaubt dem Publikum ganz nah an die Performer heranzukommen, ihre Körper zu studieren, ihren schnellen Atem zu spüren, irritiert, fasziniert oder hypnotisiert auf die Szene zu starren. Ein großer Gewinn für die Darsteller und Zuschauer gleichermaßen. Mit Nähe und Distanz spielt die Choreografin und Performerin Mira Rosa Plikat in ihrem ersten abendfüllenden Stück „Nachttarif“.
Gleich zu Beginn stellen sich die drei Tänzer, Mira Rosa Plikat, Kilian Löderbusch und Ken Konishi, dicht an den Rand der Bühne. Länger als eine Minute blicken sie starr und fast bewegungslos ins Publikum. Stille legt sich über den Zuschauersaal, die etwas Bedrückendes hat. Dann löst sich die Anfangsszene auf und die drei Tänzer beginnen sich gegenseitig wahrzunehmen, schüchtern nehmen sie Blickkontakt auf, gehen aufeinander zu, imitieren einander, laufen hintereinander her und voreinander weg - ein spannendes Spiel aus Misstrauen, Anziehung und Verletzlichkeit beginnt.
Die Bühne wird durch lange, grelle Neonröhren ausgeleuchtet, sie liegen an den Bühnenrändern und hängen in der Luft. Das Bühnenspiel hat dadurch etwas Fragiles, fast Unwirkliches und lässt den Eindruck entstehen, dass die Szenen einem Traum entsprungen sind oder sich möglicherweise nur in den Köpfen der Performer abspielen. Was ist Traum, was ist Realität?
In Ihren Stücken beschäftigt sich Plikat auf unterschiedliche Weise mit dem ständigen Austarieren zwischen der Annäherung zu- und der Distanzierung voneinander. Neugierig und gründlich befragt sie das scheinbar Vertraute und das mysteriöse Unbekannte. In „Nachttarif“wird dies ganz konkret in einer Szene deutlich, in der sich zunächst Kilian Löderbusch sein TShirt hochzieht und die anderen erschrocken davonrennen. Ein deutlicher Übergriff, Exhibitionismus, der sich an anderer Stelle noch einmal wiederholen wird, dann aber von Mira Rosa Plikat ausgeführt.
Ohne Ankündigung oder Übergang wird der Zuschauer von einer Szene in die nächste geworfen, wie schnelle Filmszenen reiht sich ein Szenario an das nächste an, dennoch ziehen sich manche Episoden und lassen das etwa 45-minütige Stück länger wirken. Zwischen düsteren und beklemmenden Szenen, gibt es zum Glück auch ausgelassene und berührende Bilder. Etwa wenn das Dreiergespann zum Club-Hit von Hollis P. Monroe tanzt: „I′m lonely. And I need to be with someone. I‘m lonely. And I need to be with someone tonight“.
Wie aus einer flüchtigen Begegnung plötzlich eine intime Situation wird, auch das stellen, die Performer sehr eindringlich dar. In Zeitlupe rollen sie mit enormer Körperspannung über die Bühne. Bis auf die Unterhose entkleiden sie sich, im nächsten Moment schrecken sie abrupt hoch und der Zuschauer sieht, wie sie in die Klamotten des anderen schlüpfen. Mira Rosa Plikat spielt mit Verwandlung, Rollentausch und Mono-Look. Besonders
der Einheitslook aus grüner Satinbluse, beiger Stoffhose und schwarzer Handtasche sorgt dafür, dass die Eigenheiten der Tänzer sehr deutlich ins Auge fallen. Es spielt keine Rolle, ob Ken Konishi eine Trainingsjacke oder Wollpulli trägt, er besticht durch seinen tiefen, fast durchdringenden Blick. Genauso verhält es sich mit Kilian Löderbusch. Sein Auftreten hat stets etwas Schelmisches und zugleich Beängstigendes.
Durch ihr ausdrucksstarkes Spiel sorgt Mira Rosa Plikat dafür, dass beklemmende Situationen immer wieder durch Humor und Ironie ausgebremst werden. So etwa in der Szene mit der Jagd auf die Handtaschen. Flink und geschickt reißt sie die Handtaschen der anderen an sich. Der Inhalt der Handtaschen könnte ungewöhnlicher nicht sein: es befinden sich Chips darin. Genussvoll isst Plikat ein Chips nach dem anderen und wird währenddessen von den Tänzern auf deren Rücken im Vierfüßler getragen – ein erfrischendes und zugleich starkes Bild. Trotz der Irrungen, Gefahren, und Verlockungen mit denen die Performer in „Nachttarif“konfrontiert sind, wirken sie nicht hilflos, sondern selbstbestimmt und überraschen das Publikum immer wieder mit neuen Bildern. Das Stück endet, wie es begonnen hat: die drei Tänzer warten an der Bushaltestelle, bereit für das nächste große Abenteuer. Die Zuschauer applaudieren mit Begeisterung und Bravorufen. Die Reihe „First & Further Steps“präsentiert bis zum 16. Mai die junge Tanzszene Nordrhein-Westfalens. Das Kulturbüro der Stadt Krefeld lädt dazu junge Choreografinnen und Choreografen in die Fabrik Heeder ein, um neue Strömungen und aktuelle Entwicklungen der freien Tanzszene des Landes vorzustellen. Die nächste Vorstellung am Freitag, 3. Mai, beginnt um 20 Uhr. Marie-Lena Kaiser zeigt „Nah“. Vorher findet ab 19.30 Uhr eine physische Einführung durch die Compagnie statt.