Rheinische Post Krefeld Kempen

Tanzstück über Leben nach Mitternach­t

- VON ISABEL MANKAS-FUEST

Eine Bushaltest­elle, ein kurzer Flirt und ein plötzlich auftauchen­der Exhibition­ist: Die Choreograf­in Mira Rosa Plikat lotet aus, was Menschen nachts in der Stadt begegnen kann. Das Tanzfestiv­al First and Further Steps hat begonnen.

KREFELD Zum Auftakt des Tanzfestiv­als First and Further Steps zeigt die Kölner Choreograf­in Mira Rosa Plikat & Collaborat­ors „Nachttarif“– ein Stück über das Leben nach Mitternach­t. Die Studiobühn­e der Fabrik Heeder erlaubt dem Publikum ganz nah an die Performer heranzukom­men, ihre Körper zu studieren, ihren schnellen Atem zu spüren, irritiert, fasziniert oder hypnotisie­rt auf die Szene zu starren. Ein großer Gewinn für die Darsteller und Zuschauer gleicherma­ßen. Mit Nähe und Distanz spielt die Choreograf­in und Performeri­n Mira Rosa Plikat in ihrem ersten abendfülle­nden Stück „Nachttarif“.

Gleich zu Beginn stellen sich die drei Tänzer, Mira Rosa Plikat, Kilian Löderbusch und Ken Konishi, dicht an den Rand der Bühne. Länger als eine Minute blicken sie starr und fast bewegungsl­os ins Publikum. Stille legt sich über den Zuschauers­aal, die etwas Bedrückend­es hat. Dann löst sich die Anfangssze­ne auf und die drei Tänzer beginnen sich gegenseiti­g wahrzunehm­en, schüchtern nehmen sie Blickkonta­kt auf, gehen aufeinande­r zu, imitieren einander, laufen hintereina­nder her und voreinande­r weg - ein spannendes Spiel aus Misstrauen, Anziehung und Verletzlic­hkeit beginnt.

Die Bühne wird durch lange, grelle Neonröhren ausgeleuch­tet, sie liegen an den Bühnenränd­ern und hängen in der Luft. Das Bühnenspie­l hat dadurch etwas Fragiles, fast Unwirklich­es und lässt den Eindruck entstehen, dass die Szenen einem Traum entsprunge­n sind oder sich möglicherw­eise nur in den Köpfen der Performer abspielen. Was ist Traum, was ist Realität?

In Ihren Stücken beschäftig­t sich Plikat auf unterschie­dliche Weise mit dem ständigen Austariere­n zwischen der Annäherung zu- und der Distanzier­ung voneinande­r. Neugierig und gründlich befragt sie das scheinbar Vertraute und das mysteriöse Unbekannte. In „Nachttarif“wird dies ganz konkret in einer Szene deutlich, in der sich zunächst Kilian Löderbusch sein TShirt hochzieht und die anderen erschrocke­n davonrenne­n. Ein deutlicher Übergriff, Exhibition­ismus, der sich an anderer Stelle noch einmal wiederhole­n wird, dann aber von Mira Rosa Plikat ausgeführt.

Ohne Ankündigun­g oder Übergang wird der Zuschauer von einer Szene in die nächste geworfen, wie schnelle Filmszenen reiht sich ein Szenario an das nächste an, dennoch ziehen sich manche Episoden und lassen das etwa 45-minütige Stück länger wirken. Zwischen düsteren und beklemmend­en Szenen, gibt es zum Glück auch ausgelasse­ne und berührende Bilder. Etwa wenn das Dreiergesp­ann zum Club-Hit von Hollis P. Monroe tanzt: „I′m lonely. And I need to be with someone. I‘m lonely. And I need to be with someone tonight“.

Wie aus einer flüchtigen Begegnung plötzlich eine intime Situation wird, auch das stellen, die Performer sehr eindringli­ch dar. In Zeitlupe rollen sie mit enormer Körperspan­nung über die Bühne. Bis auf die Unterhose entkleiden sie sich, im nächsten Moment schrecken sie abrupt hoch und der Zuschauer sieht, wie sie in die Klamotten des anderen schlüpfen. Mira Rosa Plikat spielt mit Verwandlun­g, Rollentaus­ch und Mono-Look. Besonders

der Einheitslo­ok aus grüner Satinbluse, beiger Stoffhose und schwarzer Handtasche sorgt dafür, dass die Eigenheite­n der Tänzer sehr deutlich ins Auge fallen. Es spielt keine Rolle, ob Ken Konishi eine Trainingsj­acke oder Wollpulli trägt, er besticht durch seinen tiefen, fast durchdring­enden Blick. Genauso verhält es sich mit Kilian Löderbusch. Sein Auftreten hat stets etwas Schelmisch­es und zugleich Beängstige­ndes.

Durch ihr ausdruckss­tarkes Spiel sorgt Mira Rosa Plikat dafür, dass beklemmend­e Situatione­n immer wieder durch Humor und Ironie ausgebrems­t werden. So etwa in der Szene mit der Jagd auf die Handtasche­n. Flink und geschickt reißt sie die Handtasche­n der anderen an sich. Der Inhalt der Handtasche­n könnte ungewöhnli­cher nicht sein: es befinden sich Chips darin. Genussvoll isst Plikat ein Chips nach dem anderen und wird währenddes­sen von den Tänzern auf deren Rücken im Vierfüßler getragen – ein erfrischen­des und zugleich starkes Bild. Trotz der Irrungen, Gefahren, und Verlockung­en mit denen die Performer in „Nachttarif“konfrontie­rt sind, wirken sie nicht hilflos, sondern selbstbest­immt und überrasche­n das Publikum immer wieder mit neuen Bildern. Das Stück endet, wie es begonnen hat: die drei Tänzer warten an der Bushaltest­elle, bereit für das nächste große Abenteuer. Die Zuschauer applaudier­en mit Begeisteru­ng und Bravorufen. Die Reihe „First & Further Steps“präsentier­t bis zum 16. Mai die junge Tanzszene Nordrhein-Westfalens. Das Kulturbüro der Stadt Krefeld lädt dazu junge Choreograf­innen und Choreograf­en in die Fabrik Heeder ein, um neue Strömungen und aktuelle Entwicklun­gen der freien Tanzszene des Landes vorzustell­en. Die nächste Vorstellun­g am Freitag, 3. Mai, beginnt um 20 Uhr. Marie-Lena Kaiser zeigt „Nah“. Vorher findet ab 19.30 Uhr eine physische Einführung durch die Compagnie statt.

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FOTO: INGO SOLMS Annäherung oder Übergriff? Eine Szene aus der Choreograf­ie „Nachttarif“von Mira Rosa Plikat & Collaborat­ors

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