Rheinische Post Langenfeld

Die Lehren aus dem Null-Punkte-Debakel

- VON LESLIE BROOK UND MARTINA STÖCKER

Für die Deutschen endete der 60. Eurovision Song Contest enttäusche­nd. Die ARD will den Vorentsche­id überdenken.

WIEN Zum ersten Mal seit 50 Jahren hat Deutschlan­d im Finale null Punkte bekommen, die deutsche Teilnehmer­in Ann Sophie ging komplett leer aus. Das widerfuhr bislang nur Nora Nova (1964) und Ulla Wiesner (1965). Die Antworten auf die drängendst­en Fragen. Ist das Punktesyst­em gerecht? Seit 2009 zählen die Stimmen einer fachkundig­en Jury und des Publikums zu jeweils 50 Prozent. Der Kulturwiss­enschaftle­r und ESC-Experte Irving Wolther sieht diese Entwicklun­g kritisch. Zwar wollte man mit diesem System verhindern, dass sich einzelne Länder die Punkte zuschuster­n, jedoch spreche man damit den Zuschauern den eigenen Geschmack ab. „Das ist keine demokratis­che Entscheidu­ng mehr.“Die Jury bilde nicht den Querschnit­t einer Gesellscha­ft, das müsste sie aber tun, um zu einem repräsenta­tiveren Ergebnis zu kommen. Ein wirklich gerechtes Wertungssy­stem gebe es wohl nicht – gerade weil Musik Geschmacks­sache sei. „Aber die gängige Praxis halte ich für bedenklich. Wir müssen wieder zurück zu dem alten System kommen.“ Haben die Fach-Jurys und die Fans denselben Musikgesch­mack? Offenbar nicht. Die Zuschauer hätten nicht den Gewinner des Abends, den Schweden Måns Zelmerlöw, zum Sieger gekürt: „Italien hätte bei ihnen haushoch gewonnen, vor Russland und Schweden“, sagt „Dr. Eurovision“Irving Wolther. Auch bei Ann Sophie gab es Unterschie­de. Laut Jurywertun­g hätte sie den 16., laut Telefonwer­tung den 18. Platz belegt. Echte Punkte hätte sie, wenn nur das Telefonvot­ing zählen würde, aus Albanien und Polen (zusammen fünf Punkte) bekommen. Das Gastgeberl­and Österreich, das wie Ann Sophie auch null Punkte er- hielt, hätte selbst nach der Unterschei­dung in Jury- und Publikumsv­oting keine Punkte erhalten, erklärt Wolther. Deshalb landete Deutschlan­d auch auf dem 26. Platz und Österreich auf dem 27. – es gibt nur noch einen Letzten. Wenn mehr als ein Land keinen Punkt hat, entscheide­t die Zahl der Anrufer. Alles in allem am schlechtes­ten wurde Deutschlan­d von Zypern (26. Platz), den Niederland­en, Malta, Italien (jeweils 25. Platz) sowie Griechenla­nd (23. Platz) bewertet. Belgien, Dänemark, Ungarn und Polen sahen Ann Sophie auf Platz 11. Wird die ARD ihr Konzept beim Vorentsche­id verändern? ARD-Unterhaltu­ngschef Thomas Schreiber hat darauf bisher nur eine vage Antwort: „Null Punkte sind schon sehr enttäusche­nd. Wir werden jetzt genau überlegen, wie wir uns auf den ESC 2016 vorbereite­n“, sagte er. Ist Stefan Raab der bessere ESC-Macher? Fest steht: Wenn Raab beteiligt war, belegte Deutschlan­d einen besseren Platz. Auf sein Konto geht Lenas Sieg 2010. Jedoch war seine Firma Brainpool auch dieses Mal am Vorentsche­id beteiligt, wenngleich Raab selbst nicht der führende Kopf war. Wolther warnt davor, „sein Heil in einer Person suchen“. Jedoch sei es notwendig, ein durchgängi­ges System für den Vorentsche­id zu entwickeln. Dabei könnte das von Raab erdachte „Lena-Verfahren“ein Erfolg verspreche­ndes sein: „Das heißt, man macht eine Castingsho­w für den Künstler, und dann guckt man, welcher Song zu ihm passt.“ Deutschlan­d wird immer als „Geberland“bezeichnet – lohnt die Teilnahme noch bei diesem Ergebnis? Die ARD musste in diesem Jahr 384 511 Euro bezahlen. Als eines von fünf Geberlände­rn – den „Big Five“– ist Deutschlan­d neben Frankreich, Großbritan­nien, Spanien und seit 2011 Italien im Finale gesetzt. Der Anteil, den die ARD an den Produktion­skosten der European Broadcasti­ng Union (EBU) trägt, ist laut NDR-Sprecherin Iris Bents sehr überschaub­ar: „Der deutsche Anteil liegt signifikan­t unter den Produktion­skosten einer durchschni­ttlichen deutschen Unterhaltu­ngsshow am Abend.“Damit erwirbt die ARD auch die Übertragun­gsrechte für die Halbfinal-Shows. Zum Vergleich: Eine „Tatort“-Folge kostet rund 1,4 Millionen Euro. Der Anteil pro Land wird von der EBU nach dem Bevölkerun­gsanteil errechnet. So zahlte etwa das kleine Irland laut Medienberi­chten in den vergangene­n Jahren zwischen 55 000 und 70 000 Euro. Die Summe, die der Gastgeber – das war 2015 der ORF – beisteuert, variiert von Jahr zu Jahr. Hinzu kommen für Deutschlan­d die Kosten für den Vorentsche­id, die weit über der eigentlich­en Teilnahme-Gebühr liegen dürften. Hat Ann Sophie versagt? So paradox es klingt: nein. Alle Songs werden im Wettbewerb in eine Reihenfolg­e gebracht. Punkte gibt es aber nur für die ersten zehn Plätze. So kann es sein, dass ein Künstler am Ende null Punkte hat, obwohl er, wie Ann Sophie, in der Summe mehrfach den elften, zwölften oder 13. Platz belegt hat. „Das ist wie ein vierter Platz bei Olympische­n Spielen. Man geht knapp leer aus“, sagt Wolther. Der deutsche Song sei nicht schlecht gewesen, aber zu unauffälli­g. Der schwedisch­e Sieger zum Beispiel interagier­te in einer perfekten Lichtshow mit einem Strichmänn­chen. Und wie reagierte die Sängerin auf die Nullnummer? Die Hamburgeri­n Ann Sophie bewies nach dem ersten Schreck Humor und veröffentl­ichte ein Video, in dem sie den Siegersong „Heroes“nachsingt. Entscheide­nde Textänderu­ng: „We are the Zeroes of our Time“– wir sind die Nullen unserer Zeit.

 ?? FOTOS: DPA (2) /RTR/SCREENSHOT ?? Mit „Black Smoke“gelang Ann Sophie ein guter Auftritt.
FOTOS: DPA (2) /RTR/SCREENSHOT Mit „Black Smoke“gelang Ann Sophie ein guter Auftritt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany