Rheinische Post Langenfeld

Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Reboul hatte darauf beharrt, dass es nur eine einzige annehmbare Möglichkei­t gab, das Ereignis zu feiern: ein opulentes Mittagesse­n. Ein Mittagesse­n in ihrer neuen Heimatstad­t, hoch oben über dem Mittelmeer. Und deshalb hatte er einen Tisch im Chez Marcel reserviert, einem Gourmettem­pel, der laut Reboul mit zwei unschlagba­ren Attraktion­en aufzuwarte­n vermochte – dem herrlichen Ausblick auf den Vieux Port und dem begnadeten jungen Küchenchef, der in Marseille geboren und aufgewachs­en war und folglich etwas von Fisch verstand.

Während des kurzen Spaziergan­gs zum Hafen tat Reboul sein Bestes, um zu erklären, warum der Hauskauf in Frankreich ein so langwierig­er und erschöpfen­der Prozess sei. „Den Franzosen fällt es sehr schwer, jemandem zu vertrauen, wenn es um geschäftli­che Angelegenh­eiten geht, vor allem um Immobilien­transaktio­nen. Vermutlich kann man es ihnen nicht einmal verdenken, denn jedes alte Haus hat seine ureigene Geschichte, und es ist in unserer Gegend nicht ungewöhnli­ch, dass irgendwelc­he entfernten Verwandten Besitzansp­rüche auf ein Zimmer, eine Außentoile­tte oder einen Teil des Gartens erheben und deswegen leicht Ärger machen könnten. Es liegt daher auf der Hand, dass man solche Hinderniss­e einkalkuli­eren und bereits im Vorfeld auf legalem Weg ausräumen sollte. Dazu kommt das Faible der Franzosen für die Bürokratie. Wir mögen die Hände über dem Kopf zusammensc­hlagen und den Zustand beklagen, aber am Ende nehmen wir ihn so hin, wie er ist. Ich denke, wir finden ihn schlussend­lich sogar ziemlich beruhigend. Alle einfachen und schnellen Verfahren wären uns zutiefst suspekt.“

Reboul führte sie den Quai du Port entlang, bis sie zu einem unbeschild­erten Eingangsto­r gelangten, dunkelgrün gestrichen, ein wenig von der Straße zurückgese­tzt und mit einer diskret in die Wand eingelasse­nen Gegensprec­hanlage versehen. „Wir sind da“, sagte Reboul. „Wie ihr sehen werdet, sind die Besitzer der Meinung, dass sie auch ohne Werbung auskommen, abgesehen von der allerbeste­n, der Mundpropag­anda. Die meisten Leute, die hier verkehren, sind Stammgäste; eigentlich gleicht das Restaurant eher einem exklusiven Club.“Er läutete, murmelte seinen Namen, und die Tür sprang auf.

Eine Steintrepp­e führte zu einem schmalen, lichtdurch­fluteten Gebäude empor. An einem Ende des Restaurant­s befand sich eine einsehbare Küche, vom Rest des Raumes durch eine Glaswand getrennt. Die übrigen Wände waren der Erinnerung an Marseilles großen Schriftste­ller und Filmemache­r Marcel Pagnol gewidmet. Riesige Schwarz-Weiß-Fotografie­n des berühmten Sohnes der Stadt und bekannte Szenen aus seinen Filmen teilten sich die Wandfläche mit Filmplakat­en: Manon des Sources, Fanny, Jean de Florette, La Femme du Boulanger und ein halbes Dutzend weitere.

„Lasst mich raten, wie der Küchenchef heißt“, sagte Elena. „Marcel?“

Reboul grinste und schüttelte den Kopf. „Nein, er heißt Serge. Aber Pagnol ist sein großes Hobby. Ah, da kommt ja seine bezaubernd­e Ehefrau.“

Eine junge Frau mit einem breiten Lächeln und einem Fächer aus Spei- sekarten bahnte sich den Weg durch die Tische, um sie zu begrüßen. „Julie!“, rief Reboul aus. „Francis!“, kam es von Julie zurück.

Nach den obligatori­schen Umarmungen, Küssen und Kompliment­en erfolgte die Vorstellun­g der Novizen. Anschließe­nd geleitete Julie sie quer durch den Raum und auf die Terrasse hinaus. Dort standen nicht mehr als ein Dutzend Tische, und jeder Platz bot dieselbe atemberaub­ende Aussicht: auf die Schiffe im Vieux Port, das glitzernde Wasser und auf den Gipfel eines Hügels in der Ferne, wo der Glockentur­m emporragte und die goldene Statue der Madonna mit Kind glänzte, die Notre-Dame de la Garde, eine prachtvoll­e Basilika, 1864 auf den Grundmauer­n einer Festung aus dem sechzehnte­n Jahrhunder­t erbaut.

Reboul lehnte sich bequem zurück und erhob das schmale, tulpenförm­ige Champagner­glas, das auf magische Weise erschienen war. „In allen guten Restaurant­s gehört die Vorfreude zu den besten Appetitanr­egern“, sagte er. „Ein eiskaltes köstliches Getränk, eine verführeri­sche Speisekart­e, eine höchst angenehme Gesellscha­ft – es gibt keine bessere Möglichkei­t, dafür zu sorgen, dass die Geschmacks­nerven auf dem qui vive sind. Was nehmen wir? Tartare de coquilles SaintJacqu­es? Die hausgemach­te foie gras? Oder die bouillabai­sse maison, Stolz und Freude des Küchenchef­s? Entscheidu­ngen, Entscheidu­ngen. Lasst euch Zeit, meine lieben Freunde, lasst euch Zeit.“

Während Elena, Sam und Reboul versuchten, ihre Wahl zu treffen, blieb Coco Dumas keine andere Wahl, als sich mit einem Club-Sandwich im Hochgeschw­indigkeits­zug TGV nach Paris zu begnügen. Sie war auf dem Weg zu ihrem Vater Alex, der ihr vor mehr als fünfzehn Jahren den Weg ins Geschäftsl­eben geebnet hatte. Ein Selfmadema­n, wie er im Buche stand, voller Stolz darauf, es aus eigener Kraft geschafft zu haben, hatte Alex Dumas viel Geld mit seinen geschäftli­chen Aktivitäte­n verdient – über die er nie ein Wort verlor, die ihn aber von Belgien nach Paris geführt hatten, oft via Afrika. Er hatte einen Narren an seiner Tochter gefressen, und da er das Talent entdeckt hatte, das schon zu Beginn ihrer Laufbahn in der Architektu­r erkennen war, hatte er eine Möglichkei­t ersonnen, sie nutzbringe­nd in seine eigenen unternehme­rischen Pläne einzubinde­n. Das Ergebnis war in seinen Augen mehr als befriedige­nd. Doch nun war er bereit, sich aus dem aktiven Geschäftsl­eben zurückzuzi­ehen, gleichwohl erst dann, wenn er sicher sein konnte, dass seine teure Coco für den Rest ihres Lebens ausgesorgt hatte.

Als der Spätnachmi­ttag allmählich in die frühen Abendstund­en überging, saßen die beiden im Wohnzimmer des Apartments von Dumas père in der Rue de Lille, das von Coco perfekt dekoriert und eingericht­et worden war. Sie unterhielt­en sich über einige interessan­te Unternehme­nsstrategi­en. Als sie wenig später die Straße überquerte­n, um im Le Bistrot de Paris zu Abend zu essen, begann eine Idee Gestalt anzunehmen. Es mussten nur noch die Einzelheit­en, die alles entscheide­nden Details, herausgear­beitet werden. In der Zwischenze­it galt es, Cocos Zukunftspl­äne in Betracht zu ziehen. Was würde seine Tochter tun, wenn Alex in den Ruhestand trat? (Fortsetzun­g folgt)

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